Der Schwarm, стр. 91

»Wir waren nicht mehr so oft zusammen seit … seit du und ich …« Sie schuttelte unwillig den Kopf. »Es hat eben nichts mit dem richtigen Leben zu tun, wenn wir im trauten Sveggesundet rumhangen oder raus zu den Inseln fahren. Mir kommt alles irgendwie vor, als sei ich Teil einer Inszenierung.«

»Ist es wenigstens eine gute Inszenierung?«

»Es ist, als ob du immer wieder einen Ort aufsuchst, in den du dich verliebt hast«, sagte Lund. »Jedes Mal bist du hingerissen. Eine Opernkulisse. Wenn du wieder wegfahren sollst, rollen die Tranen. Du mochtest dableiben. Und zugleich fragst du dich, ob du wirklich am schonsten Ort der Welt leben willst und ob es dann immer noch der schonste Ort der Welt ist. Wir sind es gewohnt, dass sich unser Leben … Himmel, wie soll ich sagen? Entzaubert! Mit jedem Tag ein bisschen mehr. Also suchen wir nach etwas, das es eigentlich nicht gibt. Verstehst du?« Sie lachelte schuchtern. »Entschuldige, das klingt alles furchtbar kitschig und durcheinander. Ich bin nicht gut in so was.«

»Nein. Wirklich nicht.«

Johanson sah sie an. Er suchte nach Anzeichen von Ratlosigkeit. Stattdessen sah er jemanden, der sich schon entschieden hatte. Sie wusste es nur noch nicht.

»Wenn du nicht bereit bist, an einem Ort zu leben, liebst du ihn auch nicht«, sagte er. »Wir hatten dasselbe Gesprach am See, erinnerst du dich? Damals ging’s um Hauser. Im Grunde austauschbar. Vielleicht solltest du endlich zu Kare fahren und ihm sagen, dass du ihn liebst und steinalt mit ihm werden willst. Du tatest mir einen gro?en Gefallen damit, ich muss mich sonst alle paar Tage mit dir durch die Sumpfgebiete schwulstiger Allegorien schleppen.«

»Und wenn es schief geht?«

»Du bist doch sonst nicht so ein Angsthase.«

»Doch«, sagte sie leise. »Genau das bin ich.«

»Du misstraust dem Gefuhl, glucklich zu sein. Das habe ich auch mal getan. Es ist fur nichts gut.«

»Und? Bist du heute glucklich?«

»Ja.«

»Ohne Abstriche?«

Johanson hob in einer hilflosen Geste die Arme. »Wer ist schon ohne Abstriche glucklich, du Schaf? Ich mache mir und anderen nichts vor. Ich will meine Flirts, meinen Wein, meinen Spa? und bestimmen, wo’s langgeht. Ich neige zur Verschwiegenheit, aber nicht zur Kompensation. Jeder Psychiater wurde sich mit mir zu Tode langweilen, weil ich tatsachlich einfach nur meine Ruhe will. Unterm Strich geht’s mir also prachtig. Aber ich bin ich. Mein Gluck ist anders beschaffen als deines. Meinem Gluck vertraue ich. Du musst das noch lernen. Und zwar bald. Kare ist kein Ort und kein Haus. Er wird nicht ewig warten.«

Lund nickte. Wind kam auf und spielte mit ihrem Haar. Johanson stellte fest, wie gern er sie hatte. Er war froh, dass es am See nicht zu einer dieser Liaisons mit Verfallsdatum gekommen war, die sein Liebesleben bestimmten.

»Wenn Stone hinaus zum Kontinentalhang fuhre«, sinnierte sie, »wurde ich den Kopf in Stavanger hinhalten. Das ist okay. Die Thorvaldson liegt auf See bereit. Stone konnte gleich morgen oder ubermorgen an Bord gehen. Stavanger, das dauert langer. Dafur werde ich einen ausfuhrlichen Bericht schreiben mussen. Ich hatte also ein paar Tage Zeit, nach Sveggesundet zu fahren und … dort zu arbeiten.«

»Zu arbeiten«, grinste Johanson. »Warum nicht?«

Sie kniff die Lippen zusammen. »Ich muss daruber nachdenken und mit Skaugen reden.« »Tu das«, sagte Johanson. »Und denk schnell.«

Zuruck am Schreibtisch checkte er die E-Mail-Eingange. Kaum etwas davon brachte ihn weiter. Erst die letzte Nachricht erregte sein Interesse beim Blick auf den Absender: [email protected] Johanson offnete sie. hallo, dr. Johanson, danke fur ihre mail, ich bin eben nach london zuruckgekehrt und kann ihnen augenblicklich nur sagen, dass ich nicht die geringste ahnung habe, was mit lukas bauer und seinem schiff passiert ist. wir haben jeden kontakt verloren, wenn sie wollen, konnen wir uns kurzfristig treffen, moglich, dass wir uns gegenseitig weiterhelfen, mitte kommender woche bin ich in meinem londoner buro zu erreichen, falls sie vorher lust auf ein treffen haben: ich bin derzeit zu besuch auf den shetlandinseln und konnte es einrichten, dass wir dort zusammentreffen, lassen sie mich wissen, wie es ihnen am besten passt. karen weaver.

»Schau, schau«, murmelte Johanson. »So kooperativ kann die Presse sein.«

Lukas Bauer war verschwunden?

Vielleicht sollte er Skaugen noch einmal treffen. Mehr als lacherlich machen konnte er sich nicht, wenn er dem Mann seine Theorie der hoheren Zusammenhange darlegte. Aber war es uberhaupt eine Theorie? Eigentlich hatte er wenig mehr vorzuweisen als das ungute Gefuhl, dass die Welt in Schieflage geriet und das Meer daran schuld war.

Wenn er den Gedanken ernsthaft fortentwickeln wollte, wurde es Zeit, ein Dossier anzulegen.

Er uberlegte. Er sollte Karen Weaver so schnell wie moglich treffen. Warum nicht auf den Shetland-Inseln? Es wurde ein bisschen kompliziert werden mit den Flugen, aber das sollte kein Problem darstellen, wo Statoil schon alles bezahlte.

Nein, dachte er plotzlich, es ist uberhaupt nicht kompliziert.

Hatte Skaugen nicht vor wenigen Stunden gesagt, er wurde sich kreuzigen lassen fur Johanson?

So weit musste er ja gar nicht gehen.

Es wurde reichen, einen Helikopter bereitzustellen.

Das war gut! Ein Diensthelikopter. Einer von denen, die dem Management Board zur Verfugung standen. Keiner dieser fliegenden Linienbusse, sondern etwas Schnelles und Komfortables. Wenn Skaugen ihn schon zwangsrekrutierte, sollte er auch was fur ihn tun.

Johanson lehnte sich zuruck. Er sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte er Vorlesung und spater ein Treffen mit Kollegen im Labor, um eine DNA-Analyse zu diskutieren.

Er legte einen neuen Ordner an und schrieb als Filename: Der funfte Tag.

Es war ein spontaner Gedanke, ein bisschen poetisch vielleicht, aber tatsachlich fiel ihm nichts Besseres ein. Am funften Tag hatte Gott der Bibel zufolge das Meer und seine Bewohner erschaffen. Und das Meer und seine Bewohner machten gerade einigen Arger.

Er begann zu schreiben.

Mit jeder Minute wurde ihm dabei kalter.

2. Mai

Vancouver und Vancouver Island, Kanada

Seit achtundvierzig Stunden studierten Ford und Anawak nun diese eine Sequenz.

Zuerst nur Schwarze. Dann die Ausschlage von einem starken Schallimpuls jenseits der menschlichen Horgrenze. Dreimal.

Dann die Wolke.

Eine phosphoreszierende blaue Wolke, die plotzlich inmitten des Bildschirms entstand wie das expandierende Universum. Kein starkes Licht, eher ein schummriges Blau, eine leichte, diffuse Aufhellung, aber ausreichend, dass man die massigen Silhouetten der Tiere davor sehen konnte. Die Wolke breitete sich rasch aus. Sie musste von enormer Gro?e sein. Schlie?lich hatte sie den gesamten Bildschirm eingenommen, und die Wale hingen wie gebannt davor.

Einige Sekunden vergingen.

In die Tiefen der Wolke kam Bewegung. Plotzlich schoss etwas daraus hervor wie ein sich schlangelnder Blitz mit dunn zulaufender Spitze. Sie beruhrte einen der Wale seitlich des Kopfes. Es war Lucy. Keine Sekunde dauerte die Entladung. Weitere Blitze zuckten zu anderen Tieren, ein Schauspiel wie ein Gewitter unter Wasser, das ebenso schnell vorbeiging, wie es begonnen hatte.

Der Film schien ruckwarts zu laufen. Die Wolke zog sich wieder zusammen. Sie kollabierte und verschwand, und der Bildschirm wurde schwarz. Fords Leute hatten die Sequenz verlangsamt und nochmal verlangsamt. Sie hatten alles Erdenkliche unternommen, um die Bildscharfe zu optimieren und mehr Licht herauszuholen, aber auch nach stundenlanger Analyse blieb das Video vom nachtlichen Ausflug der Wale, was es war — ein Ratsel.

Schlie?lich erarbeiteten Anawak und Ford einen Bericht fur den Krisenstab. Sie hatten die Erlaubnis eingeholt, einen Biologen aus Nanaimo hinzuzuziehen, der auf Biolumineszenz spezialisiert war und nach anfanglicher Ratlosigkeit zu den gleichen Schlussen gelangte wie sie. Wolke und Lichtblitze waren vermutlich organischen Ursprungs. Der Lumineszenzexperte vertrat die Meinung, bei den Blitzen musse es sich um eine Art Kettenreaktion im Gefuge der Wolke handeln, doch was sie ausloste und warum sie uberhaupt stattfanden, vermochte auch er nicht zu sagen. Ihre schlangelige Form und die Tatsache, dass sie zur Spitze dunner wurden, lie? ihn an einen Kalmar denken, aber dann hatte es ein Tier von gigantischen Ausma?en sein mussen, und au?erdem war zweifelhaft, dass Riesenkalmare leuchteten. Selbst wenn, hatte es nicht die Wolke erklart und ebenso wenig, wovon diese schlangenartigen Blitze ausgingen.