Der Schwarm, стр. 77

Dieses Wasser bildete Europas Fernheizung, den Golfstrom. Bis Neufundland walzte er sich und transportierte dabei eine Milliarde Megawatt Warme, was der thermischen Leistung von 250000 Kernkraftwerken entsprach, wo ihm der kalte Labradorstrom in die Seite fiel und ihn aufloste. Dabei wurden sogenannte Eddies abgeschnurt, kreisende, warme Wassermassen, die weiter nach Norden trieben, nun Nordatlantische Drift genannt. Westwinde sorgten dafur, dass reichlich Wasser verdunstete, was Europa ergiebige Regenfalle bescherte und zugleich den Salzgehalt in die Hohe trieb. Die Drift zog weiter die norwegische Kuste hoch, firmierte dort als Norwegenstrom und brachte immer noch genug Warme in den au?ersten Nordatlantik, dass Schiffe selbst im Winter Sudwestspitsbergen anlaufen konnten. Erst zwischen Gronland und Nordnorwegen endete der Warmezufluss. Hier stie? der Norwegenstrom alias Nordatlantische Drift alias Golfstrom auf eiskaltes Arktiswasser, das ihn, unterstutzt von kalten Winden, rapide abkuhlte. Das ohnehin sehr salzige, nun auch sehr kalte Wasser wurde schwer und sackte ab. So schwer wurde es, dass seine Massen steil in die Tiefe sturzten. Das geschah nicht auf ganzer Front, sondern in Kanalen, sogenannten Schloten, die je nach Wellengang ihre Position wechselten und darum nicht auf Anhieb zu finden waren. Sinkschlote hatten einen Durchmesser zwischen 20 und 50 Metern. Etwa zehn von ihnen kamen auf einen Quadratkilometer, aber wo genau sie lagen, hing von der Tagesform des Meeres und der Winde ab. Entscheidend war der ungeheure Sog, den die absinkenden Wassermassen erzeugten. Hierin lag das ganze Geheimnis des Golfstroms und seiner Auslaufer. Er floss nicht wirklich nach Norden, sondern wurde dorthin gezogen, angesaugt von der gewaltigen Pumpe unterhalb der Arktis. In 2000 bis 3000 Metern Tiefe trat das eisige Wasser dann seinen Ruckweg an, eine Reise, die es einmal um den Erdball fuhrte.

Bauer hatte eine Reihe von Driftern ausgesetzt in der Hoffnung, dass sie dem Verlauf der Schlote folgen wurden. Aber inzwischen drohte ihn der Mut zu verlassen, uberhaupt auf Schlote zu sto?en. Uberall hatten sie sein mussen. Stattdessen schien die gro?e Pumpe ihren Betrieb eingestellt oder in unbekannte Regionen verlegt zu haben.

Bauer war hier, weil er um diese Probleme wusste und um ihre Auswirkungen. Er hatte nicht erwartet, alles in bester Ordnung vorzufinden. Aber gar nichts vorzufinden hatte er noch viel weniger erwartet.

Und es bereitete ihm wirklich sehr, sehr gro?e Sorgen.

Er hatte Weaver seine Sorgen mitgeteilt, bevor sie von Bord gegangen war. Seither mailte er ihr folgsam in regelma?igen Abstanden Statusberichte und lie? sie an seinen geheimsten Befurchtungen teilhaben. Schon vor Tagen hatte sein Team festgestellt, dass die Gaskonzentrationen im Nordmeer sprunghaft angestiegen waren, und er brutete uber der Frage, ob es womoglich einen Zusammenhang mit dem Verschwinden der Sinkschlote gab.

Jetzt, allein in seiner Kammer, war er dessen fast sicher.

Er arbeitete ohne Pause, wahrend die Polarnacht hart gesottene Seeleute dazu brachte, einfach an der Reling zu lehnen und hinauszusehen. Mit rundem Rucken sa? er uber Stapeln von Berechnungen, Ausdrucken mit Diagrammen und Karten. Zwischendurch schickte er eine E-Mail an Karen Weaver, einfach um Hallo zu sagen und sie mit seinen letzten Erkenntnissen vertraut zu machen.

So versunken war er in seine Arbeit, dass er es eine ganze Weile schaffte, das Zittern zu ignorieren — so lange, bis der Becher Tee auf seinem Schreibtisch zur Kante gewandert war und sich im Kippen auf seine Hose ergoss.

»Teufel auch!«, zeterte er. Der Tee lief hei? in seinen Schritt und an den Schenkeln herab. Er schob den Stuhl zuruck und stand auf, um das Malheur naher in Augenschein zu nehmen.

Dann verharrte er, die Hande um die Stuhllehnen gekrallt, und horchte hinaus.

Tauschte er sich?

Nein, er horte Schreie. Schwere Stiefel rannten uber das Deck. Irgendetwas ging da drau?en vor sich. Das Zittern wurde heftiger. Das Schiff verfiel in Vibrationen, und plotzlich hebelte ihn etwas aus dem Gleichgewicht. Achzend stolperte er gegen seinen Schreibtisch. Im nachsten Moment sackte der Boden unter ihm weg, als ob das komplette Schiff in ein Loch fiele. Bauer wurde rucklings zu Boden geschleudert. Angst nahm Besitz von ihm, tiefe, schreckliche Angst. Er rappelte sich auf und taumelte aus seiner Kammer hinaus auf den Gang. Lautere Schreie drangen an sein Ohr. Die Maschine wurde angeworfen. Jemand brullte etwas auf Islandisch, das Bauer nicht verstand, weil er nur Englisch sprach, aber er horte das Entsetzen in der Stimme, und noch gro?eres Entsetzen in der Stimme, die antwortete.

Ein Seebeben?

Hastig lief er den Gang entlang und die Treppe hinauf zum Deck. Das Schiff schwankte wie wild hin und her. Er hatte Muhe, sich auf den Beinen zu halten. Als er nach drau?en wankte, schlug ihm ein entsetzlicher Gestank entgegen, und mit einem Mal wusste Lukas Bauer, was los war.

Er schaffte es zur Reling und sah hinaus. Ringsum brodelte wei? die See. Als sa?en sie in einem Kochtopf.

Das waren keine Wellen. Kein Sturm. Es waren Blasen. Riesige, aufsteigende Blasen.

Wieder sackte der Schiffsboden weg. Bauer fiel nach vorn und schlug mit dem Gesicht hart auf die Planken. In seinem Kopf explodierte der Schmerz. Als er wieder aufsah, war seine Brille zu Bruch gegangen. Ohne Brille war er so gut wie blind, aber er sah auch so, dass die See uber dem Schiff zusammenschlug.

Oh Gott!, dachte er. Oh Gott, hilf uns.

30. April

Vancouver Island, Kanada

Die Nacht erstrahlte in dusterem Grun.

Weder war es kalt noch warm, vielmehr herrschte eine Art wohliger Temperaturlosigkeit. Das Atmen schien zu den Akten verfehlter Entwicklungen gelegt und durch eine ubergreifende Funktion ersetzt worden zu sein, die es gestattete, sich frei in den Elementen zu bewegen. Nachdem Anawak nun schon eine ganze Weile durch das tiefdunkelgrune Universum gefallen war, befiel ihn eine regelrechte Euphorie, und er reckte die Arme wie ein Ikarus, der sich den Abgrund zum Himmel erkoren hat, berauschte sich am Gefuhl der Schwerelosigkeit und sank tiefer und tiefer. Am Grund schimmerte ihm etwas entgegen, eine weite, eisige Landschaft, und der dunkle, grune Ozean verwandelte sich in einen nachtlichen Himmel.

Er stand am Rande eines Eisfeldes und blickte hinaus auf schwarzes, still daliegendes Wasser, uber sich eine Fulle von Sternen.

Frieden erfasste ihn.

Wie wunderbar war es, einfach hier zu stehen. Der Eisrand wurde sich vom Festland ablosen und als Scholle durch die nordlichen Meere treiben, immer hoher hinauf, mit ihm als Passagier, dorthin, wo keine erdruckende Fragenlast mehr auf ihn wartete, sondern ein Zuhause. Sein Zuhause. Er wurde zu Hause sein. Sehnsucht legte sich auf Anawaks Brust und trieb ihm Tranen in die Augen, funkelnde, grelle Tranen, die ihn blendeten, sodass er versuchte, sie abzuschutteln — und tatsachlich spritzten sie in die schwarze See und begannen sie zu erleuchten. Etwas stieg aus der Tiefe zu ihm empor. Das Wasser formte sich zu einer Gestalt, die in einiger Entfernung auf ihn zu warten schien, dort, wo er nicht hingehen konnte. Starr und kristallen stand sie da, das Licht der Sterne gefangen in ihrer Oberflache.

Ich hab sie gefunden, sagte die Gestalt.

Sie hatte kein Gesicht und keinen Mund, doch ihre Stimme kam Anawak bekannt vor. Er trat naher heran, aber da war der Eisrand, und im schwarzen Wasser schwamm etwas Gro?es, Furcht Einflo?endes.

Du hast was gefunden?, fragte er.

Seine eigene Stimme versetzte ihm einen Schrecken. Die Worte kamen zah uber seine Lippen. Sie qualten sich hervor wie grobschlachtige Tiere. Im Gegensatz zu dem, was die Gestalt gesagt oder vielleicht nur gedacht hatte, verwundeten sie die perfekte Stille uber der Landschaft aus Eis, und plotzlich griff schneidende Kalte nach Anawak. Sein Blick suchte das Ding im Wasser, aber es war verschwunden.