Der Schwarm, стр. 74

Als Folge erstellte der Computer einen virtuellen Raum und wies den Urhebern der Laute Koordinaten darin zu. Nacheinander fullte sich der Raum mit Positionsanzeigen von Walen, die sich in der Weise zueinander verschoben, wie auch die Tiere ihren Standort veranderten. Das Rudel wurde im Innern des Computers sozusagen nachgebaut.

Auch Lucy gab eine Reihe von Tonen von sich, als sie in der Tiefe verschwand. Im Rechner waren umfangreiche Datenmengen gespeichert, spezifische Laute von Walen und bestimmten Fischen bis hm zu den Stimmen einzelner Tiere. Der URA durchforstete seinen elektronischen Katalog, aber Lucy als Individuum tauchte dort nicht auf. Automatisch legte er eine Datei fur die Laute der Koordinatengruppe an, die Lucy entsprach, verglich sie mit weiteren Koordinatengruppen, klassifizierte alle Tiere vor ihm als Grauwale und beschleunigte auf zwei Knoten, um ihnen ein Stuck naher zu kommen.

Ebenso grundlich, wie er die Wale akustisch geortet und angepeilt hatte, ging der Roboter nun zur optischen Erfassung uber. In seinen Datenbanken waren Flukenmuster und -silhouetten gespeichert, au?erdem Finnen, Flipper und signifikante Korperstellen einzelner Individuen. Diesmal war der Maschine mehr Gluck beschieden. Das elektronische Auge scannte die auf und ab schlagenden Fluken der Wale vor ihm und identifizierte schnell einen davon als Lucy. Kurz zuvor hatte man ihm samtliche Daten der Wale, die an den Angriffen beteiligt gewesen waren, einprogrammiert, und darum wusste der Roboter nun, welchem Tier seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu gelten hatte.

Der URA korrigierte seinen Kurs um wenige Grade.

Walgesange erlaubten Stimmkontakte uber Distanzen von mehr als einhundert Seemeilen. Die Schallwellen bewegten sich im Wasser funfmal schneller fort als in der Luft. Lucy mochte schwimmen, wie schnell und wohin sie wollte.

Er wurde sie nicht mehr verlieren.

26. April

Kiel, Deutschland

Die eiserne Tur glitt zur Seite. Bohrmanns Blick erwanderte die gigantische Konstruktion des Simulators.

Der Tiefseesimulator schien die Natur auf ein menschenvertragliches Ma? heruntergestutzt zu haben, ohne sie gleich ins Exil der blo?en Theorie zu schicken. Wenngleich im kleinen Ma?stab, war das Meer beherrschbar geworden. Sie hatten sich eine Welt aus zweiter Hand geschaffen, eine jener idealisierten Kopien, wie sie den Menschen zunehmend vertrauter wurden als die Wirklichkeit: Wer wollte noch etwas uber das wahre Leben im Mittelalter wissen, wenn Hollywood es auf seine Weise zeigte? Wen interessierte, wie ein Fisch starb, wie er blutete, aufgeschnitten und seine Eingeweide entnommen wurden, solange man auf Eis liegende Stucke kaufen konnte? Amerikanische Kinder malten Huhner mit sechs Beinen, weil Huhnerschenkel im Sechserpack angeboten wurden. Man trank Milch aus einem Pappkarton und ekelte sich vor dem Inhalt eines Euters. Das Weltempfinden verkruppelte, und damit einher ging Arroganz. Bohrmann war begeistert von dem Simulator und seinen Moglichkeiten. Zugleich fuhrte ihm der Tank vor Augen, wie blind Forschung zu werden drohte, wenn sie das Objekt ihrer Untersuchung nachbildete, anstatt es zu betrachten. Immer weniger ging es darum, den Planeten zu verstehen, als ihn sich zurechtzubiegen. Im bunten Disneyland der Missverstandnisse erhielt menschliches Eingreifen neue, schreckliche Rechtfertigung. Jedes Mal, wenn er die Halle betrat, schoss Bohrmann derselbe Gedanke durch den Kopf: Nie werden wir in der Lage sein, Gewissheit uber das Machbare zu erlangen, sondern immer nur uber das, wovon wir besser die Finger lassen. Und davon wollen wir dann nichts horen. Zwei Tage nach dem Unfall auf der Sonne befand er sich wieder in Kiel. Die Bohrkerne und Kuhlbehalter waren mit separater Eilfracht in die Obhut von Erwin Suess gelangt, der sich mit einem Team von Geochemikern und Biologen unverzuglich darangemacht hatte, die Ausbeute der Expedition zu untersuchen. Als Bohrmann im Institut eingetroffen war, hatten die Analysen schon begonnen. Seit vierundzwanzig Stunden versuchten sie unermudlich, den Ursachen der Zersetzung auf die Spur zu kommen. Wie es aussah, waren sie fundig geworden. Der Simulator mochte die Wirklichkeit idealisieren, aber in diesem Fall hatte er vielleicht die Wahrheit uber die Wurmer ans Licht gebracht. Suess wartete am Monitorpult auf ihn. Er war in Begleitung Heiko Sahlings und Yvonne Mirbachs, einer Molekularbiologin, die auf Tiefseebakterien spezialisiert war.

»Wir haben eine Computersimulation angelegt«, sagte Suess. »Weniger fur uns, sondern damit es jeder begreift.« »Es ist also nicht mehr alleine das Problem von Statoil«, sagte Bohrmann. »Nein.« Suess bewegte den Cursor auf dem Monitor und klickte ein Symbol an. Eine grafische Darstellung erschien. Sie zeigte einen Querschnitt durch einen einhundert Meter dicken Hydratdeckel und eine darunter liegende Gasblase. Sahling deutete auf eine dunne, dunkle Schicht an der Oberflache.

»Das sind die Wurmer«, sagte er.

»Gehen wir mal in die Vergro?erung«, sagte Suess.

Ein Ausschnitt der Eisoberflache erschien. Die Wurmer waren nun einzeln zu erkennen. Suess zoomte weiter auf, bis ein einzelnes Exemplar den Bildschirm fast ausfullte. Es war grob stilisiert, einzelne Korperpartien grell eingefarbt.

»Das Rote sind Schwefelbakterien«, erlauterte Yvonne Mirbach. »Das Blaue Archaen.«

»Endo— und Ektosymbionten«, murmelte Bohrmann. »Der Wurm steckt voller Bakterien, und sie siedeln auf ihm.«

»Genau. Es sind Konsortien. Bakterien mehrerer Arten, die zusammenarbeiten.«

»Das war den Leuten, die Johanson hinzugezogen hatten, ubrigens auch schon klar geworden«, fugte Suess hinzu. »Sie haben zentimeterdicke Gutachten uber die symbiotische Lebensweise des Wurms verfasst. Aber sie haben nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Keiner hat sich die Frage gestellt, was diese Konsortien eigentlich tun. — Wir sind die ganze Zeit davon ausgegangen, dass die Wurmer das Eis destabilisieren, obwohl uns klar war, dass sie es gar nicht konnen. Aber es sind nicht die Wurmer.«

»Die Wurmer sind nur Transporter«, sagte Bohrmann.

»So ist es.« Suess klickte ein Symbol an. »Hier hast du die Antwort auf euren Blowout.«

Der stilisierte Wurm begann sich zu bewegen. Die Darstellung war sehr grob angelegt worden in der Kurze der Zeit. Es war eher eine Abfolge von Einzelbildern als ein Trickfilm. Die zangenartigen Kiefer klappten aus, und der Wurm begann sich ins Eis zu bohren.

»Jetzt pass auf.«

Bohrmann starrte auf die Bilder. Suess hatte die Darstellung wieder aufgezoomt. Mehrere Tiere waren zu sehen, die ihre Korper ins Hydrat trieben. Dann plotzlich …

»Mein Gott!«, sagte Bohrmann.

Es herrschte atemlose Stille.

»Wenn das uberall am Kontinentalhang so lauft …«, begann Sahling.

»Tut es«, sagte Bohrmann tonlos. »Wahrscheinlich sogar zeitgleich. Mist, wir hatten schon an Bord der Sonne darauf kommen konnen. Die Hydratbrocken waren von Bakterien regelrecht verschleimt.«

Er hatte ungefahr erwartet, was er nun sah. Er hatte es befurchtet und zugleich gehofft, er moge sich irren. Aber die Wirklichkeit war noch viel schlimmer — wenn es die Wirklichkeit war.

»Was hier im Einzelnen geschieht, ist eigentlich bekannt«, sagte Suess. »Jedes der Phanomene ist fur sich betrachtet nichts Neues. Das Neue entsteht im Zusammenwirken. Sobald man alle Komponenten in Beziehung zueinander setzt, wird die Zersetzung der Hydrate offenkundig.« Er gahnte. Es wirkte seltsam unpassend angesichts der schrecklichen Bilder, aber keiner von ihnen hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden ein Auge zugetan. »Mir ist nur keine Erklarung dafur eingefallen, warum die Wurmer uberhaupt da sind.«

»Mir auch nicht«, sagte Bohrmann. »Und ich denke schon langer daruber nach als du.«