Der Schwarm, стр. 62

»Ganz abgesehen von deinem Ruf als serioser Wissenschaftler.«

»Makah?«, echote Delaware.

»Ein Stamm der Nuu-Chah-Nulth«, sagte Ford.

»Indianer im Westen Vancouver Islands. Sie versuchen seit Jahren schon juristisch durchzusetzen, dass sie den Walfang wieder aufnehmen durfen.«

»Was? Wo leben die? Sind die wahnsinnig?«

»Der Herr erhalte dir deine zivilisierte Emporung, aber die Makah haben das letzte Mal 1928 Wale gejagt«, gahnte Anawak. Er konnte seine Augen kaum noch offen halten. »Sie waren es nicht, die Grauwale, Blauwale, Buckelwale und so weiter an den Rand des Aussterbens gebracht haben. Den Makah geht es um die Tradition und die Erhaltung ihrer Kultur. Sie argumentieren damit, dass kaum noch ein Makah den traditionellen Walfang beherrscht.«

»Na und? Wer essen will, soll in den Supermarkt gehen.«

»Bring Leons edle Fursprache nicht durcheinander«, sagte Ford und schuttete sich Wein nach.

Delaware starrte Anawak an. Etwas in ihren Augen veranderte sich.

Bitte nicht, dachte er.

Dass er wie ein Indianer aussah, war offenkundig, aber nun begann sie die falschen Schlusse zu ziehen. Er konnte die Frage formlich heranrauschen horen. Er wurde sich erklaren mussen. Nichts hasste er mehr als den Gedanken daran. Er hasste ihn und wunschte, Ford hatte niemals von den Makah angefangen.

Schnell wechselte er einen Blick mit dem Direktor.

Ford verstand.

»Reden wir ein andermal daruber«, schlug er vor. Und bevor Delaware etwas erwidern konnte, sagte er: »Die Vergiftungstheorie sollten wir mit Oliviera, Fenwick oder Rod Palm besprechen, aber offen gesagt, ich glaube nicht dran. Die Belastung entsteht durch auslaufendes Ol und die Verklappung von Chlorkohlenwasserstoffen. Du wei?t ebenso gut wie ich, wozu das fuhrt. Schwachung des Immunsystems, Infektionen, vorzeitiger Tod. Nicht zum Wahnsinn.«

»Hat nicht irgendein Wissenschaftler ausgerechnet, dass die Orcas vor der Westkuste in 30 Jahren ausgestorben sein werden?«, brachte sich Delaware wieder ins Gesprach.

Anawak nickte duster.

»In 30 bis 120 Jahren. Wenn es so weitergeht. Ubrigens nicht allein wegen der Vergiftungen. Die Orcas verlieren ihre Nahrungsquelle, den Lachs. Wenn sie nicht am Gift zugrunde gehen, wandern sie aus. Sie mussen ihre Nahrung in Gebieten suchen, die sie nicht kennen, verfangen sich in Fischereigeschirr … Es kommt alles zusammen.«

»Vergiss die Vergiftungstheorie«, meinte Ford. »Wenn es nur die Orcas waren, konnten wir daruber reden. Aber Orcas und Buckelwale in strategischer Eintracht … Ich wei? nicht, Leon.«

Anawak dachte nach.

»Ihr kennt meine Einstellung«, sagte er leise. »Ich bin weit davon entfernt, Tieren Absichten zu unterstellen oder ihre Intelligenz zu uberschatzen, aber … habt ihr nicht auch mitunter das Gefuhl, dass sie uns loswerden wollen?«

Sie sahen ihn an. Er hatte erwartet, auf heftige Widerrede zu sto?en. Stattdessen nickte Delaware.

»Ja. Bis auf die Residents.«

»Bis auf die Residents. Weil sie nicht dort gewesen sind, wo die anderen waren. Wo etwas mit den anderen passiert ist. Die Wale, die den Schlepper versenkt haben … Ich sag’s euch! Die Antwort liegt drau?en.«

»Mein Gott, Leon.« Ford lehnte sich zuruck und lie? einen gro?zugigen Schluck Wein die Kehle heruntergurgeln. »In welchem Film sind wir denn jetzt gelandet? Gehet hin und bekampfet die Menschheit?«

Anawak schwieg.

Auf Dauer brachte sie das Video der Frau nicht weiter.

Als er spatabends im Bett seines kleinen Apartments in Vancouver lag, ohne Schlaf zu finden, reifte in Anawak der Gedanke, einen der veranderten Wale selber zu praparieren. Was immer die Tiere ubernommen hatte, es beherrschte sie nach wie vor. Mit Kamera und Sender versehen, wurde eines davon vielleicht die dringend erforderlichen Antworten liefern.

Die Frage war, wie sie etwas an einem wild gewordenen Buckelwal befestigen sollten, wenn schon die friedlichen kaum stillhielten?

Und dann dieses Problem mit der Haut …

Einen Seehund zu bestucken war etwas vollig anderes, als einen Wal mit einem Sender zu versehen. Seehunde und Robben lie?en sich problemlos auf ihren Ruheplatzen fangen. Der biologisch abbaubare Kleber, mit dem die Sender befestigt wurden, haftete im Fell, trocknete schnell und loste sich irgendwann durch einen integrierten Auslosemechanismus. Spatestens beim alljahrlichen Fellwechsel verschwanden auch die Klebstoffreste.

Aber Wale und Delphine hatten kein Fell. Es gab kaum etwas Glatteres als die Haut von Orcas und Delphinen, die sich anfuhlte wie ein frisch gepelltes Ei und mit einem dunnen Gel uberzogen war, um Stromungswiderstande auszuschlie?en und Bakterien fern zu halten. Standig wurde die oberste Hautschicht ersetzt. Enzyme losten sie, sodass sie bei Sprungen in gro?en, dunnen Fetzen abfiel — mitsamt allen unerwunschten Bewohnern und Sendern. Und die Haut von Grau— und Buckelwalen bot kaum besseren Halt.

Anawak stand auf, ohne Licht zu machen, und trat zum Fenster. Das Apartment lag in einem der alteren Hochhauser mit Blick auf Granville Island, und er konnte auf die glitzernde, nachtliche Stadt blicken. Nacheinander ging er die Moglichkeiten durch. Naturlich gab es Tricks. Amerikanische Wissenschaftler griffen zu einer Methode, bei der Sender und Messgerate mit Saugnapfen befestigt wurden. Unter Zuhilfenahme langer Stangen setzten sie die Sonde vom Boot auf nahe schwimmende oder in der Bugwelle reitende Tiere. Das ging oft genug daneben. Immerhin ein Weg. Allerdings widerstanden auch die Saugnapf-Sender dem Stromungsdruck nur wenige Stunden. Andere klemmten die Gerate an die Ruckenflosse. Hier wie da stellte sich die Frage, wie man in diesen Tagen uberhaupt mit einem Boot an einen Wal gelangen sollte, ohne sofort versenkt zu werden.

Man konnte die Tiere betauben …

Alles viel zu kompliziert. Au?erdem wurden Fahrtenschreiber nicht reichen. Sie brauchten Kameras. Satellitentelemetrie und Videobilder.

Plotzlich kam ihm eine Idee.

Es gab eine Methode.

Sie erforderte einen guten Schutzen. Wale gaben gro?flachige Ziele ab Dennoch empfahl sich jemand, der wirklich schie?en konnte.

Mit einem Mal war Anawak wie im Fieber. Er hastete zum Schreibtisch, loggte sich ins Internet ein und rief nacheinander verschiedene Adressen auf. Ihm war eine weitere Moglichkeit eingefallen, von der er gelesen hatte. Eine Weile kramte er in einer Schublade mit Zetteln, bis er die Internet-Adresse des Underwater Robotics amp; Application Laboratory Teams in Tokio gefunden hatte.

Nach kurzer Zeit wusste er, wie es funktionieren konnte. Sie mussten die beiden Wege koppeln. Der Krisenstab wurde einen Haufen Geld in die Hand nehmen mussen, aber augenblicklich schien man davor nicht zuruck zuschrecken, solange es der Klarung der Probleme diente. In seinem Schadel kreiste es. Gegen Morgen fand er endlich Schlaf. Sein letzter Gedanke galt der Barrier Queen und Roberts. Auch so eine Sache. Der Manager hatte ihn nicht zuruckgerufen, trotz mehrfachen Nachfragens. Er hoffte, dass Inglewood wenigstens die Proben nach Nanaimo geschickt hatte.

Und was war uberhaupt mit dem Bericht?

Er wurde sich nicht damit zufrieden geben, standig abgewimmelt zu werden. Was wollte er morgen alles tun? Ich werde wohl nochmal aufstehen und mir Notizen machen, dachte er. Dass ich als Erstes … In derselben Sekunde schlief er ein, zu Tode erschopft.

20. April

Lyon, Frankreich

Bernard Roche machte sich Vorwurfe, weil er sich mit der Untersuchung der Wasserproben zu viel Zeit gelassen hatte, aber er konnte es nicht andern. Wie hatte er ahnen sollen, dass ein Hummer in der Lage war, einen Menschen zu toten? Oder moglicherweise mehrere?

Jean Jerome, der Fischkoch des Troisgros in Roanne, war nicht mehr aus dem Koma erwacht, 24 Stunden, nachdem ihm ein verseuchter bretonischer Hummer um die Ohren geflogen war. Was genau seinen Tod herbeigefuhrt hatte, lie? sich immer noch nicht sagen. Fest stand, dass sein Immunsystem versagt hatte, offenbar als direkte Folge eines schweren toxischen Schocks. Ebenso wenig lie? sich beweisen, dass der Hummer daran schuld war, beziehungsweise das Zeug in seinem Innern, aber es sah ganz danach aus. Auch andere Mitglieder des Kuchenpersonals waren erkrankt, am schwersten der Lehrling, der die merkwurdige Substanz beruhrt und konserviert hatte. Sie alle litten an Schwindelgefuhl, Ubelkeit und Kopfweh und klagten uber Probleme mit der Konzentration. Das alleine ware schlimm genug gewesen, zumal fur das Troisgros, dessen Betrieb mittlerweile in einige Bedrangnis geriet. Was Roche jedoch viel mehr beunruhigte, war die Vielzahl ahnlicher Beschwerden, mit denen Leute aus Roanne ihren Arzt aufsuchten, seit Jerome gestorben war. Ihre Symptome waren weniger stark ausgepragt. Dennoch befurchtete Roche das Schlimmste, nachdem er herausgefunden hatte, was mit dem Wasser geschehen war, in dem Jerome die Hummer zwischengelagert hatte.