Der Schwarm, стр. 59

Jerome ging einige Minuten auf und ab. Von hier konnte er durch die breite Glasfront das rege Treiben in der Kuche weiterverfolgen, aber er merkte, dass es ihm schwer fiel, seinen Blick langer als einige Sekunden zu fokussieren. Er atmete schwer und spurte einen lastenden Druck auf der Brust, trotz der frischen Luft. Seine Beine kamen ihm vor wie aus Gummi. Sicherheitshalber lie? er sich an einem der Holztische nieder und dachte uber das Geschehnis vom Vormittag nach. Er hatte das Innenleben des Hummers in den Haaren und im Gesicht gehabt. Ganz sicher hatte er irgendetwas eingeatmet, wahrscheinlich war Flussigkeit in seinen Mund gelaufen, oder er hatte irgendetwas mit der Zunge aufgenommen, als er sich die Lippen leckte.

Ob es nun der Gedanke an das zerplatzte Tier war oder einfach die Folge seiner plotzlichen Erkrankung, jedenfalls erbrach sich Jerome mit plotzlicher Heftigkeit in die Zierpflanzen. Noch wahrend er da hing, wurgend und keuchend, dachte er, dass es jetzt wohl drau?en war, das Zeug. Gut so. Er wurde einen Schluck Wasser trinken, und dann wurde es ihm bestimmt sehr schnell besser gehen.

Er stemmte sich hoch. Alles um ihn herum drehte sich. Sein Kopf fuhlte sich gluhend hei? an, sein Blickfeld verengte sich, und er schaute in eine Spirale. Du musst aufstehen, dachte er. Aufstehen und in der Kuche nach dem Rechten sehen. Nichts darf schief gehen. Nicht im Troisgros.

Muhsam kam er auf die Beine und schlurfte davon, aber er ging in die verkehrte Richtung. Nach zwei Schritten wusste er nicht mehr, dass er in die Kuche hatte gehen wollen. Er wusste eigentlich uberhaupt nichts mehr, und er sah auch nichts mehr.

Unter den Baumen, die den Garten umstanden, brach er zusammen.

18. April

Vancouver Island, Kanada

Es nahm kein Ende.

Anawak fuhlte seine Augen kleiner und kleiner werden. Er spurte, wie sie sich roteten, wie die Lider aufquollen und sich drum herum Faltchen bildeten, fur die er zu jung war. Kurz davor, mit dem Kinn auf die Tischplatte zu knallen, starrte er weiter auf den Bildschirm. Seit der Wahnsinn uber die Westkuste gekommen war, hatte er kaum etwas anderes getan, als Bildschirme anzustarren, ohne bislang mehr als einen Bruchteil des Materials gesichtet zu haben — Aufzeichnungen, deren Existenz sich einer der bahnbrechendsten Erfindungen in der Verhaltensforschung verdankte:

Der Tiertelemetrie.

Ende der siebziger Jahre hatten Forscher eine Methode entwickelt, Tiere auf vollig neuartige Weise zu beobachten. Bis dahin waren nur sehr ungenaue Aussagen uber Verbreitungsgebiet und Wanderungsverhalten der Arten moglich gewesen. Wie ein Tier lebte, wie es jagte und sich paarte, welche individuellen Anspruche und Bedurfnisse es hatte, blieb der Spekulation uberlassen. Naturlich unterlagen Tausende von Tieren standiger Beobachtung. Aber fast immer fand sie unter Bedingungen statt, die keine wirklichen Ruckschlusse auf ihr naturliches Verhalten ermoglichten. Ein Tier in Gefangenschaft tat nun mal nicht, was es in freier Wildbahn tat, ebenso wenig wie ein Haftling in einer Zelle reprasentative Daten uber sein Leben als freier Mensch geliefert hatte.

Selbst dort, wo man Tieren in ihrem angestammten Lebensraum begegnete, blieben die Erkenntnisse unzureichend. Entweder suchten sie augenblicklich das Weite oder kamen gar nicht erst zum Vorschein. Tatsachlich wurde so ziemlich jeder Forscher langer vom Objekt seiner Neugier in Augenschein genommen, als er selber es beobachtete. Andere Spezies, die weniger scheu waren — wie etwa Schimpansen oder Delphine —, richteten ihr Verhalten auf den Beobachter aus, reagierten aggressiv oder neugierig, wurden mitunter kokett und setzten sich in Pose, kurz, sie taten alles, um jeder objektiven Erkenntnis entgegenzuwirken. Hatten sie genug, verschwanden sie im Dickicht, erhoben sich in die Lufte oder tauchten unter die Wasseroberflache, wo sie sich endlich so verhielten, wie es ihrer Natur entsprach — nur dass man ihnen dorthin nicht folgen konnte.

Doch genau diesen Traum hatten die Biologen seit Darwin getraumt: Wie uberlebte man als Robbe oder Fisch in den dunklen und kalten Gewassern der Antarktis? Wie erhielt man Einblick in ein Biotop, das von einer geschlossenen Eisdecke uberzogen war? Wie sah man die Welt wahrend des Flugs uber das Mittelmeer nach Afrika, wenn man nicht in einem Flugzeug sa?, sondern auf dem Rucken einer Wildgans? Was widerfuhr einer einzelnen Biene innerhalb von vierundzwanzig Stunden? Wie erhielt man Daten uber die Frequenz von Flugelschlagen, uber Herzrhythmus, Blutdruck, Fressverhalten, tauchphysiologische Leistungen, Sauerstoffspeicherung und die Folgen anthropogener Einflusse auf Meeressauger wie Schiffslarm oder Unterwasserdetonationen?

Wie folgte man Tieren dorthin, wohin kein Mensch folgen konnte?

Die Antwort fand sich in einer Technologie, mit deren Hilfe Spediteure die Position ihrer Schwerlaster bestimmen konnten, ohne ihr Buro zu verlassen, und die Autofahrern half, eine Stra?e in einer vollig fremden Stadt zu finden. Jeder moderne Mensch war mit dieser Technologie vertraut, ohne zu ahnen, dass sie zugleich die Zoologie revolutionierte.

Telemetrie.

Schon Ende der Funfziger hatten amerikanische Wissenschaftler Konzepte entwickelt, um Tiere mit Sonden auszurusten. Die US Navy begann wenig spater mit dressierten Delphinen zu arbeiten, allerdings scheiterten die ersten dieser Programme an der Gro?e der Sender. Sie waren einfach zu schwer. Was nutzte ein Fahrtenschreiber auf dem Rucken eines Delphins, der Aufschluss uber dessen naturliches Verhalten liefern sollte, wenn er eben dieses Verhalten beeinflusste? Man drehte sich eine Weile im Kreis, bis die Mikroelektronik den Umschwung brachte. Plotzlich lieferten schokoriegelgro?e Fahrtenschreiber und ultraleichte Kameras alle gewunschten Daten direkt aus freier Wildbahn — unbemerkt von ihren Tragern, die mit knapp 15 Gramm Hightech durch Regenwalder spazierten oder unter den Eisschollen des McMurdo Sounds hindurchtauchten. Endlich gaben Grizzlybaren, Wildhunde, Fuchse und Karibus Aufschluss uber ihre Lebensweise, uber Paarung, Jagdverhalten und Wanderrouten. Man flog mit Seeadlern und Albatrossen, Schwanen, Gansen und Kranichen um die halbe Welt. Am vorlaufigen Ende der Entwicklung wurden Insekten mit Minisendern ausgerustet, die gerade mal ein tausendstel Gramm wogen, ihre Betriebsenergie aus Radarwellen bezogen und die Strahlen in doppelter Frequenz zuruckwarfen, sodass die Daten noch in uber 700 Metern Entfernung klar zu empfangen waren.

Den Gro?teil der Messungen bewaltigte die satellitengestutzte Telemetrie Das System war ebenso einfach wie genial. Die Signale des Tiersenders wurden in den Orbit entsandt und dort von ARGOS, einem Satellitensystem der franzosischen Raumfahrtorganisation CNES, aufgenommen. Sie fanden ihren Weg zuruck zur Betreiberzentrale in Toulouse und zu einer Bodenstation in Fairbanks, USA, von wo sie innerhalb von 90 Minuten an eine Reihe weltweit angeschlossener Institute weitergeleitet wurden — fast so gut wie Echtzeitubertragung.

Die Erforschung von Walen, Robben, Pinguinen und Meeresschildkroten entwickelte sich schnell zu einem eigenen Bereich der Telemetrie. Sie gewahrte Einblick in den faszinierendsten, weil unerforschtesten Lebensraum der Erde. Ultraleichte Fahrtenschreiber speicherten Daten aus betrachtlicher Tiefe, registrierten Temperatur, Tauchtiefe und -dauer, Standort, Schwimmrichtung und Geschwindigkeit. Dummerweise durchdrangen ihre Signale kein Wasser, was die ARGOS-Satelliten gegenuber der Tiefsee zur Blindheit verdammte. Buckelwale etwa, die einen Gro?teil ihres Lebens vor der Kuste Kaliforniens verbrachten, hielten sich hochstens eine Stunde pro Tag an der Wasseroberflache auf. Wahrend Ornithologen ziehende Storche zugleich beobachten und Daten empfangen konnten, waren die Meeresforscher wie abgeschnitten, sobald die Wale abtauchten. Um sie wirklich zu erforschen, hatte man ihnen mit laufender Kamera zum Grund des Pazifik folgen mussen, aber das schaffte kein Taucher, und U-Boote waren zu langsam und zu unbeweglich.