Der Schwarm, стр. 189

»Mal ehrlich, warum sind wir eigentlich an Bord, Licia und ich?«, fragte er unvermittelt.

Anawak schaute aufs Meer hinaus.

»Weil man euch braucht.«

»Nicht wirklich, Leon. Mich vielleicht, weil ich mit Delphinen zurechtkomme, aber ebenso gut hattet ihr jeden anderen Trainer der Navy nehmen konnen. Und Licia hat uberhaupt keine Funktion.«

»Sie ist eine hervorragende Assistentin.«

»Setzt du sie ein? Brauchst du sie?«

»Nein.« Anawak seufzte. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. Wenn man nur lange genug hineinsah und sich vorstellte, dass es genau umgekehrt sei — dass man selber in Wirklichkeit oben war und die Wolken eine tief unten liegende Landschaft bildeten, und dass man nicht auf Dunstberge, sondern auf Hugel, Taler, Flusse und Seen schaute —, dann glaubte man es irgendwann. Man glaubte es so sehr, dass man sich festhalten musste, um nicht in die Tiefe zu sturzen, die uber einem hing. »Nein, ihr seid an Bord, weil ich es mir gewunscht habe.«

»Du hast es dir gewunscht. Warum?«

»Weil ihr meine Freunde seid.«

Eine Weile herrschte wieder Schweigen. Anawak erkannte immer mehr Details in den Wolken. Details einer Welt, die viele Kilometer entfernt lag. Unendlich viel weiter als die Welt der Yrr.

»Ich schatze, das sind wir«, nickte Greywolf.

Anawak lachelte. »Wei?t du, ich bin eigentlich mit allen Menschen gut ausgekommen, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals Freunde gehabt zu haben. Richtige Freunde. Schon gar nicht hatte ich gedacht, dass ich eine anstrengende kleine Doktorandin als Freundin bezeichnen wurde, die alles besser wei?. Oder einen baumlangen Spinner, mit dem ich mich fast geprugelt hatte.«

»Die kleine Doktorandin hat getan, was Freunde auszeichnet.«

»Und das ware?«

»Sie hat sich fur dein damliches Leben interessiert.«

»Ja. Das hat sie allerdings.«

»Und wir beide sind immer Freunde gewesen. Wahrscheinlich waren nur …« Greywolf zogerte, dann hielt er die Skulptur hoch und grinste. »… nur unsere Kopfe eine Weile verschlossen.«

»Was meinst du, warum traumt man so was?«

»Dein Eisberg-Traum?«

»Ich habe mir den Kopf daruber zerbrochen, und du wei?t, ich bin alles, nur kein Esoteriker. Ich hasse diesen Schei?. Aber irgendetwas war da in Nunavut, das ich nicht erklaren kann. Etwas ist mit mir passiert. Spatestens drau?en auf dem Eis, als ich diesen Traum hatte.«

»Was glaubst du denn selber?«

»Diese unbekannte Macht, diese Bedrohung, sie lebt unter Wasser. In der Tiefsee. Vielleicht werde ich sie dort treffen. Vielleicht ist es meine Aufgabe, runterzugehen und …«

»Die Welt zu retten?«

»Ach, vergiss es.«

»Willst du wissen, was ich glaube, Leon?«

Anawak nickte.

»Ich denke, du liegst vollig daneben. Jahrelang hast du dich verbuddelt und dein blodes Eskimo-Trauma mit dir rumgeschleppt. Du bist dir und allen auf den Sack gegangen. Vom Leben hast du gar nichts verstanden. Dein Eisberg, auf dem du einsam dahingetrieben bist, das warst du selber. Ein eisiger, unnahbarer Klotz. Aber du hast Recht, irgendwas ist dort mit dir passiert, und der Klotz hat angefangen zu schmelzen. Dieser Ozean, in den du sinken wirst, ist nicht das Meer, in dem die Yrr wohnen. Es ist das Leben der Menschen. Da gehorst du hin. Das ist das Abenteuer, das auf dich wartet. Freundschaften, Liebe, all das. Und auch Feinde, Hass und Wut. — Deine Rolle ist nicht, den Helden zu spielen. Du musst niemandem beweisen, dass du Mut hast. Die Heldenrollen in dieser Geschichte sind bereits verteilt, und es sind Rollen fur Tote. — Du gehorst in die Welt der Lebenden.«

Nacht

Jeder von ihnen ruhte anders.

Crowe, klein und zierlich, hatte sich fest in ihr Bettzeug gerollt. Ihr eisgrauer Schopf schaute zur Halfte heraus. Sie verschwand fast in den Laken, wahrend Weaver auf dem Bauch schlief, nackt und ohne Decke, den Kopf seitwarts gedreht, den Unterarm als Kissen benutzend. Die kastanienfarbenen Locken ringelten sich uppig nach allen Seiten, sodass nur der halb geoffnete Mund zu sehen war. Shankar gehorte augenscheinlich zu den Leuten, deren Betten am nachsten Morgen jedes Mal so aussahen, als hatten sich die Alptraume vieler Nachte darin abgesetzt. Er war ein Wuhler, der im Schlaf das halbe Bettzeug umsortierte und dabei sporadisches, ersticktes Schnarchen und Gemurmel von sich gab.

Rubin war die meiste Zeit wach.

Auch Greywolf und Delaware schliefen wenig, weil sie bestandig Sex hatten, vornehmlich auf dem Kabinenboden. Meist lag Greywolf auf dem Rucken, kupferbraun und machtig wie ein mythisches Tier, und trug Delawares milchwei?en Korper. Zwei Kabinen weiter ruhte Anawak auf der Seite, bekleidet mit einem T-Shirt. Auch Oliviera lie? konventionelles Schlafgebaren erkennen. Beide atmeten ruhig, drehten sich im Verlauf der Nacht ein— bis zweimal um, und das war’s.

Johanson lag auf dem Rucken, die Arme weit von sich gestreckt, Handflachen nach au?en. Nur die Betten in Flaggland und Offiziersland lie?en derart raumgreifende Gewohnheiten zu. Die Pose war dem Norweger so sehr zu Eigen, dass ihn eine Verehrerin vor Jahren mitten in der Nacht geweckt hatte, nur um ihm zu sagen, er schlafe wie ein Gro?grundbesitzer. Er hatte die Geschichte an einem Abend im Chateau zum Besten gegeben, und tatsachlich schlief er jede Nacht so — ein Mann, der noch mit geschlossenen Augen wirkte, als wolle er das Leben umarmen.

Sie alle schliefen oder wachten auf einer Reihe glimmender Bildschirme. Jeder der Monitore uberblickte eine komplette Kabine. Zwei Manner in Uniform sa?en im Halbdunkel davor und beobachteten die Wissenschaftler. Hinter ihnen standen Li und der Stellvertretende CIA-Direktor.

»Die reinsten Engelchen«, sagte Vanderbilt.

Li sah mit unbewegter Miene zu, wie Delaware zum Hohepunkt kam. Der Ton war leise gestellt, trotzdem drang einiges von der Konzertierung des Liebesakts in die kuhle Atmosphare des Kontrollzentrums.

»Freut mich, dass es Ihnen gefallt, Jack.«

»Der kleine Muskelprotz da ware mehr nach meinem Geschmack«, sagte Vanderbilt und zeigte auf Weaver. »Bemerkenswerter Arsch, finden Sie nicht?«

»Verliebt?«

Vanderbilt grinste. »Ich muss doch sehr bitten.«

»Setzen Sie Ihren Charme ein«, sagte Li. »Immerhin haben Sie gut zwei Zentner davon.«

Der CIA-Direktor tupfte sich den Schwei? von der Stirn. Sie sahen noch eine Weile zu. Wenn Vanderbilt Gefallen an dem Geschehen fand, sollte er sich ruhig amusieren. Li war es gleichgultig, ob die Leute auf den Monitoren schnarchten, miteinander schliefen oder das Rad schlugen. Ihretwegen hatten sie sich mit den Fu?en an die Decke hangen oder geifernd ubereinander herfallen konnen.

Hauptsache, man wusste, wo sie waren, was sie taten und was sie miteinander sprachen.

»Weitermachen«, sagte sie und wandte sich ab. Im Hinausgehen fugte sie hinzu: »Und in alle Kabinen schauen.«

13. August

Besuch

Die Antwort blieb aus.

Unablassig war die Nachricht ins Meer abgestrahlt worden, bislang ohne Ergebnis. Um 07.00 Uhr hatte sie der Weckruf aus den Kojen geworfen. Die meisten waren unausgeschlafen. Normalerweise lullten einen die Bewegungen des Riesenschiffes ein, und da keine Flugeinsatze stattfanden, drang vom Dach kein Larm nach unten. Das CPS sorgte mit leichtem Brummen fur angenehm gleich bleibende Temperaturen, und die Betten waren wirklich bequem. Hin und wieder lie?en sich auf den Gangen Schritte vernehmen, wenn jemand von der Besatzung unterwegs war. Im Bauch des Schiffes hummelten leise die Generatoren. Man hatte wunderbar schlummern konnen, ware da nicht diese Erwartungshaltung gewesen. So fanden die meisten nur zu halb wachen Grubeleien wie Johanson, der sich vorzustellen versuchte, was die Botschaft in den Tiefen der Gronlandischen See auslosen mochte, bis ihn die wildesten Phantasien heimsuchten.