Der Schwarm, стр. 18

»Du willst mir weismachen, dass sich euer Business nicht mehr lohnt?«

»Das Offshore-Geschaft hat sich erst gelohnt, als die OPEC den Preis in die Hohe trieb, Anfang der Siebziger. Aber seit Mitte der Achtziger fallt er wieder. Und entsprechend tief wird Nordeuropa fallen, wenn die Quellen versiegen, also mussen wir weiter drau?en bohren, wo es tief ist, unter Zuhilfenahme von ROVs und AUVs.«

AUV war eine weitere Abkurzung aus dem Vokabular der Tiefseeexploration und derzeit in aller Munde. Die Autonomous Underwater Vehicles funktionierten im Wesentlichen wie der Victor, waren jedoch nicht mehr auf die kunstliche Nabelschnur zum Mutterschiff angewiesen. Die Offshore-Industrie sah mit gro?em Interesse auf die Entwicklung dieser neuartigen Tauchroboter, die wie planetare Spaher in die unwirtlichsten Regionen vorstie?en, au?erst flexibel und beweglich waren und innerhalb eines gewissen Rahmens sogar eigene Entscheidungen treffen konnten. Mit Hilfe von AUVs ruckte die Moglichkeit in greifbare Nahe, Olforderungsstationen selbst in funf— oder sechstausend Metern Tiefe zu installieren und zu uberwachen.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Johanson, wahrend er Wein nachgoss. »Du kannst nicht wirklich was dafur.«

»Ich entschuldige mich nicht«, entgegnete Lund murrisch. »Au?erdem konnen wir alle was dafur. Wurde die Menschheit nicht so rumaasen mit dem Brennstoff, hatten wir die Probleme nicht.«

»Doch. Wir hatten sie nur spater. Aber dein Umweltbewusstsein ehrt dich.«

»Na und?«, versetzte sie giftig. Der spottische Unterton in seiner Stimme war ihr nicht entgangen. »Olfirmen lernen auch dazu, du wirst es kaum fur moglich halten.«

»Ja, aber was?«

»Wir durfen uns in den nachsten Jahrzehnten mit der Entsorgung von uber sechshundert Plattformen rumschlagen, weil sie unwirtschaftlich sind und die Technik nichts mehr taugt! Wei?t du, was das kostet? Milliarden! Bis dahin ist der Schelf leer gepumpt! Also tu nicht so als waren wir irgendwelches Lumpenpack.«

»Schon gut.«

»Naturlich sturzt sich jetzt alles auf unbemannte Unterwasserfabriken. Wenn wir es nicht tun, hangt Europa morgen komplett an den Pipelines des Nahen Ostens und Sudamerikas, und uns bleibt ein Friedhof im Meer.«

»Dagegen sage ich ja gar nichts. Ich frage mich nur, ob ihr immer so genau wisst, was ihr da tut.«

»Was meinst du damit?«

»Ihr musst massive technische Probleme losen, um autonome Fabriken zu betreiben.«

»Ja. Sicher.«

»Ihr plant den Durchsatz gewaltiger Mengen unter extremen Druckverhaltnissen und mit hochkorrosiven Beimischungen, und dann noch moglichst wartungsfrei.« Johanson zogerte. »Aber ihr wisst nicht wirklich, wie es da unten aussieht.«

»Wir finden es eben heraus.«

»So wie heute? Das bezweifle ich. Mir kommt es vor, als ob Oma im Urlaub Schnappschusse macht und hinterher denkt, sie wusste etwas uber das Land, in dem sie war. Ihr neigt dazu, euch eine Stelle zu suchen, euch einen Claim abzustecken und ihn so weit in Augenschein zu nehmen, dass er euch Erfolg versprechend erscheint. Deswegen werdet ihr noch lange nicht verstehen, in welches System ihr eingreift.«

»Jetzt kommt das schon wieder«, stohnte Lund.

»Habe ich etwa Unrecht?«

»Ich kann das Wort Okosystem singen und ruckwarts herbeten. Ich kann’s im Schlaf. Bist du jetzt neuerdings gegen die Olforderung?«

»Nein. Ich bin nur dafur, sich mit der Welt vertraut zu machen, die man betritt.«

»Was denkst du, was wir hier tun?«

»Ich bin sicher, ihr wiederholt eure Fehler. Ende der Sechziger hattet ihr euren Goldrausch, und ihr habt die Nordsee zugebaut. Jetzt steht euch das Zeug im Weg herum. Ihr solltet ahnliche Hastigkeiten in der Tiefsee vermeiden.«

»Wenn wir so hastig sind, warum habe ich dir dann die verdammten Wurmer geschickt?«

»Du hast ja Recht. Ego te absolvo.«

Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Johanson beschloss, das Thema zu wechseln: »Kare Sverdrup ist ubrigens ein netter Kerl. — Um auch mal was Positives zu sagen an diesem Abend.«

Lund warf die Stirn in Falten. Dann entspannte sie sich und lachte. »Findest du?«

»Absolut.« Er breitete die Hande aus. »Ich meine, es ist alles andere als nett, dass er mich vorher nicht gefragt hat, aber ich kann ihn gut verstehen.«

Lund lie? den Wein in ihrem Glas kreisen.

»Das ist alles noch so frisch«, sagte sie leise.

Sie schwiegen eine Weile.

»Sehr verliebt?«, fragte Johanson in die Stille hinein.

»Wer? Er oder ich?«

»Du.«

»Hm.« Sie lachelte. »Ich glaube schon.«

»Du glaubst?«

»Ich bin Forscherin. Ich muss es eben erst erforschen.«

Es war Mitternacht, als sie schlie?lich ging. An der Tur warf sie einen Blick zuruck auf die leeren Glaser und die Kaserinden.

»Vor wenigen Wochen hattest du mich damit gekriegt«, sagte sie. Es klang beinahe bedauernd.

Johanson schob sie sanft hinaus auf den Flur.

»In meinem Alter kommt man auch daruber weg«, sagte er. »Los jetzt! Geh forschen.«

Sie trat nach drau?en. Dann beugte sie sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Danke fur den Wein.«

Das Leben besteht aus Kompromissen zwischen verpassten Gelegenheiten, dachte Johanson, als er die Ture schloss. Dann grinste er und schickte den Gedanken in die Verbannung. Er hatte schon zu viele Gelegenheiten genutzt, um sich beklagen zu konnen.

18. Marz

Vancouver und Vancouver Island, Kanada

Leon Anawak hielt den Atem an.

Komm schon, dachte er. Mach uns die Freude.

Es war das sechste Mal, dass der Beluga auf den Spiegel zuschwamm. Die kleine Gruppe Journalisten und Studenten, die sich im unterirdischen Beobachtungsraum des Vancouver Aquariums zusammengefunden hatte, verharrte in andachtiger Stille. Durch die riesige Scheibe konnten sie das Innere des Pools in seiner Gesamtheit uberblicken. Schrag einfallende Sonnenstrahlen tanzten uber Wande und Boden. Der Beobachtungsraum selber lag im Dunkeln, sodass die Wasseroberflache Licht und Schatten in unstetem Spiel auf die Gesichter der Umstehenden zauberte.

Anawak hatte den Beluga mit ungiftiger Tinte markiert. Ein farbiger Kreis zierte jetzt seinen Unterkiefer. Die Stelle war so gewahlt, dass der Wal sie nur sehen konnte, wenn er sein Spiegelbild betrachtete. Zwei Spiegel waren in die reflektierenden Glaswande des Pools eingelassen, und zu einem davon schwamm der Beluga jetzt in ma?igem Tempo. Er tat es mit einer Zielstrebigkeit, dass Anawak keinen Zweifel am Ausgang des Experiments hegte. Der wei?e Korper drehte sich im Voruberschwimmen leicht, als wolle der Wal den Betrachtern seine markierte Kinnlade prasentieren. Dann stoppte er vor der Glaswand und lie? sich ein Stuck nach unten sinken, bis er auf gleicher Hohe mit dem Spiegel war. Er verharrte, stellte sich auf, bewegte den Kopf in die eine, dann in die andere Richtung. Offenbar versuchte er herauszufinden, aus welchem Blickwinkel er den Kreis am besten sehen konnte. Eine ganze Weile schwebte er auf diese Weise vor dem Spiegel, bewegte die Flossen und drehte den kleinen Kopf mit der charakteristischen Stirnwolbung hin und her.

So wenig menschenahnlich der Beluga war, erinnerte er in diesen Sekunden auf geradezu unheimliche Weise an einen Menschen. Im Gegensatz zu Delphinen waren Belugas verschiedener Gesichtsausdrucke fahig. Augenblicklich schien der Wal sich zuzulacheln. Vieles von dem, was Menschen gerne in Delphine und Belugas hineininterpretierten, resultierte aus diesem vermeintlichen Lacheln. Tatsachlich entsprangen die hoch gezogenen Mundwinkel einer Reihe physiognomischer Eigentumlichkeiten, die der Kommunikation dienten. Belugas konnten die Mundwinkel ebenso herabziehen, ohne Missmut auszudrucken. Sie konnten sogar die Lippen spitzen und aussehen, als ob sie gut gelaunt vor sich hinpfiffen.