Der Schwarm, стр. 178

»Hat mein Vater damals fur die Rechte der Inuit gekampft?«, fragte Anawak leise.

»Das haben wir alle. Ich war ein junger Mann, als wir vertrieben wurden. Ich habe mitgestritten um Wiedergutmachung. 30 Jahre lang haben wir prozessiert und gerungen. Auch dein Vater. Aber er ist am Ende daran zerbrochen. Nun haben wir seit 1999 unseren Staat, Nunavut, unser Land. Niemand redet uns mehr rein, niemand siedelt uns um. Aber unser Leben, das einzige Leben, das je fur uns gemacht war, ist unwiederbringlich verloren.«

»Also musst ihr euch ein neues suchen.«

»Du hast sicher Recht. Was hilft alles Jammern? Wir waren immer Nomaden und ungebunden, aber wir haben uns mit der Vorstellung eines begrenzten Territoriums arrangiert. Bis vor wenigen Jahrzehnten kannten wir keine Organisationsform au?er losen Familienverbanden, wir duldeten weder Hauptlinge noch Fuhrer, und jetzt herrschen Inuit uber Inuit, wie es sich fur einen modernen Verwaltungsstaat gehort. Wir kannten keinen Besitz, jetzt gehen wir den Weg einer modernen Industrienation. Wir beleben die Traditionen wieder, manche schaffen sich Schlittenhunde an, das Iglubauen wird wieder gelehrt und das Feuermachen mit Flintsteinen. Es ist schon, dass diese Werte erneuert werden, aber damit halten wir die Zeit nicht auf. — Und ich will dir sagen, Junge, dass ich gar nicht unzufrieden bin. Die Welt bewegt sich. Heute leben wir als Nomaden im Internet, durchstreifen das Netz der Datenhighways, jagen und sammeln Informationen. Wir nomadisieren durch die ganze Welt. Die jungen Leute chatten mit Menschen aus allen Erdteilen und erzahlen ihnen von Nunavut. Immer noch bringen sich viele Menschen in diesem Land um, zu viele. Nun, wir haben ein Trauma zu verarbeiten. Man sollte uns Zeit geben und die Hoffnung der Lebenden nicht den Toten opfern, was meinst du?«

Anawak sah zu, wie die Sonne sacht den Horizont beruhrte. »Du hast Recht«, sagte er.

Und dann, einem Impuls folgend, erzahlte er Akesuk alles, was sie im Chateau herausgefunden hatten, woran der Stab arbeitete und welche Vermutung sie hegten uber die fremde Intelligenz im Meer. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Er wusste, dass er damit gegen Lis ehernes Gebot verstie?, aber es war ihm gleich. Er hatte ein Leben lang geschwiegen. Akesuk war der letzte Rest Familie, den er noch besa?.

Sein Onkel lauschte.

»Mochtest du den Rat eines Schamanen?«, fragte er schlie?lich.

»Nein. Ich glaube nicht an Schamanen.«

»Ja, wer tut das noch? Aber dieses Problem konnt ihr nicht mit Wissenschaft losen, Junge. Ein Schamane wurde dir sagen, dass ihr es mit Geistern zu tun bekommen habt, den Geistern der belebten Welt, die in den Wesen wandern. Die Quallunaat haben begonnen, das Leben zu vernichten. Sie haben die Geister gegen sich aufgebracht, die Meeresgottin Sedna. Wer immer deine Wesen im Meer sind, ihr werdet nichts erreichen, wenn ihr versucht, gegen sie vorzugehen.«

»Sondern?«

»Begreift sie als Teil von euch. Jeder ist des anderen Au?erirdischer auf diesem angeblich so vernetzten Planeten. Nehmt Kontakt auf. So wie du Kontakt aufgenommen hast zum fremden Volk der Inuit. Ware es nicht gut, wenn alles wieder zusammenwuchse?«

»Es sind keine Menschen, Iji.«

»Darum geht es nicht. Sie sind Teil derselben Welt, wie deine Hande und Fu?e Teile desselben Korpers sind. Der Kampf um Herrschaft lasst sich nicht gewinnen. Schlachten kennen nur Opfer. Wen interessiert es denn, wie viele Rassen sich die Erde teilen und wie intelligent sie sind? Lernt, sie zu verstehen, anstatt sie zu bekampfen.«

»Klingt nach christlicher Doktrin. Linke Wange, rechte Wange.«

»Nein«, kicherte Akesuk. »Es ist der Rat eines Schamanen. So was haben wir hier namlich noch, aber wir machen kein Aufhebens drum.«

»Welcher Schamane sollte mir …« Anawak hob die Brauen. »Doch nicht etwa du?«

Akesuk zuckte die Achseln und grinste. »Einer muss sich ja um geistlichen Beistand kummern«, sagte er. »Schau mal!«

In einiger Entfernung hatte sich ein riesiger Polarbar uber die letzten Reste des Narwals hergemacht und die Vogel aufgescheucht. Sie stoben um ihn herum oder trippelten in respektvoller Entfernung ubers Eis. Ein Sturmvogel stie? immer wieder auf den Eindringling herab. Der Bar zeigte sich unbeeindruckt. Er war weit genug vom Camp entfernt, dass der Wachposten keinen Warnruf auszusto?en brauchte, aber der Mann hatte das Gewehr hochgenommen und sah aufmerksam zu der Stelle hinuber.

»Nanuq«, sagte Akesuk. »Er riecht alles. Auch uns.«

Anawak beobachtete den Baren beim Fressen. Er empfand keine Angst. Nach einer Weile verlor der Koloss das Interesse und machte sich behabig davon. Einmal drehte er sich um, augte neugierig zum Camp heruber und verschwand schlie?lich hinter einer Barriere aus Packeis.

»Wie gemutlich er sich gibt«, flusterte der Onkel. »Aber er kann laufen, Junge! Er kann laufen!« Akesuk kicherte, griff in seinen Anorak und brachte eine kleine Skulptur zum Vorschein, die er Anawak in den Scho? legte. »Darauf habe ich gewartet. Wei?t du, jedes Geschenk braucht seine Zeit. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, dir das zu geben.«

Anawak nahm die Plastik und betrachtete sie. Ein menschliches Gesicht mit Federhaaren, dessen Hinterkopf in einen Vogelkorper auslief.

»Ein Vogelgeist?«

»Ja.« Akesuk nickte. »Toonoo Sharky hat ihn gemacht, ein Nachbar von mir. Ganz angesehener Kunstler mittlerweile, hat es bis ins Museum of Modern Arts geschafft. Nimm ihn. Dir steht vieles bevor. Du wirst ihn brauchen, Junge. Er wird deine Gedanken in die richtige Richtung lenken, wenn es so weit ist.«

»Wenn was so weit ist?«

»Dein Bewusstsein wird fliegen.« Akesuk formte die Hande zu Schwingen, lie? sie flattern und grinste. »Aber du bist lange fort gewesen von hier. Ein bisschen aus der Ubung. Vielleicht brauchst du einen Mittler, der dir verrat, was der Vogelgeist sieht.«

»Du sprichst in Ratseln.«

»Das ist das Privileg der Schamanen.«

Ein Vogel strich uber sie hinweg.

»Eine Rosenmowe«, lachte Akesuk. »Na, du hast wirklich Gluck, Leon, wirklich Gluck! Wusstest du, dass jedes Jahr Tausende Vogelliebhaber aus aller Welt anreisen, nur um diese Mowe zu sehen? So selten ist sie. — Nein, du solltest dich nicht sorgen, wirklich nicht. Die Geister haben dir ein Zeichen gesandt.«

Spater, als sie endlich in ihre Schlafsacke gefunden hatten, lag Anawak noch eine Weile wach. Die nachtliche Sonne erhellte die Zeltwand. Einmal horte er den Ruf der Barenwache: »Nanuq, Nanuq!« Er dachte an das tiefe, schwarze Nordpolarmeer unter sich, und seine Gedanken, korperlos, schienen durch die Eisdecke hinabzusinken in die unbekannte Welt. Ruhig atmend trieb er auf einer See aus Schlaf dahin und schlie?lich auf dem Plateau eines gewaltigen Eisbergs, geboren im gronlandischen Gletscher, herubergetrieben an die Ostkuste von Bylot Island, festgehalten von der zufrierenden See und endlich dem aufbrechenden Eis wieder entrissen von Wind und Wellen und nach Suden getrieben. In seinem Traum stieg Anawak uber einen schmalen, verschneiten Pfad bis zum Gipfel des Berges und sah, dass sich dort ein smaragdgruner Binnensee aus Schmelzwasser gebildet hatte. So weit das Auge reichte, erstreckte sich spiegelglattes, blaues Meer. Der Eisberg wurde zerflie?en, und er wurde hinabsinken in diese stille See zum Urgrund allen Lebens, wo ein Ratsel darauf wartete, gelost zu werden.

Und vielleicht ein Schamane, ihm dabei zu helfen.

24. Mai

Frost

Frost war wie ublich anderer Meinung.

Die Hauptmethanvorkommen lagerten nach Einschatzung der rohstofffordernden Industrie im Pazifik entlang der Westkuste Nordamerikas und vor Japan, au?erdem im Ochotskischen Meer sowie im Beringmeer und weiter nordlich in der Beaufortsee. Im Atlantik hatten die USA das meiste davon vor der Haustur. Es gab gro?ere Vorkommen in der Karibik und vor Venezuela und starke Konzentrationen im Gebiet der Drake-Stra?e zwischen Sudamerika und der Antarktis. Auch von den norwegischen Hydraten hatte man gewusst, und ebenso bekannt war die Existenz von Lagerstatten im ostlichen Mittelmeer und im Schwarzen Meer.