Der Schwarm, стр. 158

New York, USA

Wir schaffen es nicht.

Salomon Peak hatte nur noch diesen einen Gedanken, als er in den Helikopter stieg. Wir sind nicht vorbereitet. Wir haben nichts, was wir diesem Grauen entgegensetzen konnen.

Wir schaffen es nicht.

Der Helikopter stieg vom nachtlichen Wall Street Heliport auf und zog quer uber Soho, Greenwich Village und Chelsea nordwarts. Die Stadt war hell erleuchtet, aber man sah, dass etwas nicht stimmte. Viele Stra?en waren in Flutlicht getaucht, und es herrschte kein flie?ender Verkehr mehr. Von hier oben offenbarte sich das ganze Ausma? des Chaos. New York wurde beherrscht von den Sicherheitskraften des OEM und der Armee. Standig landeten und starteten Hubschrauber. Auch der Hafen war gesperrt worden. Nur Militarschiffe kreuzten noch auf dem East River.

Und immer mehr Menschen starben.

Sie waren machtlos. Sie konnten nichts dagegen tun. Das OEM hatte Vorschriften und Ratschlage zuhauf veroffentlicht, wie sich die Bevolkerung im Falle einer Katastrophe schutzen konnte, aber die bestandigen Warnungen und offentlichen Ubungen schienen nichts bewirkt zu haben. Die Kanister mit Trinkwasser, die in jedem Haushalt fur Notfalle bereitzustehen hatten, standen nicht bereit. Wo es doch der Fall war, erkrankten die Leute an Toxiden, die als Gase aus der Kanalisation aufstiegen oder aus Waschbecken, Toiletten und Geschirrspulern waberten. Alles, was Peak hatte tun konnen, war, offensichtlich gesunde Menschen aus der Gefahrenzone in riesige Quarantanelager zu bringen und dort festzusetzen. New York hatte sich in eine Todeszone verwandelt. Schulen, Kirchen und offentliche Gebaude waren in Krankenhauser umfunktioniert worden, der Ring um die Stadt glich einem gigantischen Gefangnis.

Er schaute nach rechts.

Immer noch brannte es in dem Tunnel. Der Fahrer eines Militartankwagens hatte seine Atemmaske nicht ordnungsgema? aufgesetzt und bei voller Fahrt das Bewusstsein verloren. Er war in einem Konvoi unterwegs gewesen. Der Unfall hatte eine Kettenreaktion ausgelost, in deren Verlauf Dutzende von Fahrzeugen in die Luft geflogen waren. Derzeit herrschten im Tunnel Temperaturen wie im Innern eines Vulkans.

Peak machte sich Vorwurfe, dass er den Unfall nicht hatte verhindern konnen. Naturlich war die Verseuchungsgefahr in einem Tunnel weit hoher als in den Stra?en der Stadt, wo die Toxide abziehen konnten. Aber wie hatte er uberall zugleich sein konnen? Was konnte er uberhaupt verhindern?

Wenn es irgendetwas gab, dass Peak aus tiefster Seele hasste, war es das Gefuhl der Machtlosigkeit.

Und jetzt ging es auch in Washington los.

»Wir schaffen es nicht«, hatte er Li am Telefon gesagt.

»Wir mussen«, war die einzige Antwort gewesen.

Sie uberflogen den Hudson River und hielten auf Hackensack Airport zu, wo eine Militarmaschine auf Peak wartete, um ihn nach Vancouver zu bringen. Die Lichter Manhattans fielen zuruck. Peak fragte sich, was die Versammlung am folgenden Tag wohl ergeben wurde. Er hoffte, dass wenigstens ein Medikament dabei heraussprang, um dem Horror von New York ein Ende zu setzen, aber etwas warnte ihn, sich Hoffnungen zu machen. Es war seine innere Stimme, und sie behielt im Allgemeinen Recht.

Sein Schadel wummerte im Takt des Rotorenlarms.

Peak lehnte sich zuruck und schloss die Augen.

Chateau Whistler, Kanada

Li war hochzufrieden.

Naturlich hatte ihr angesichts des heraufdammernden Armageddon Erschutterung weit eher angestanden. Aber der Tag war einfach zu gut verlaufen. Vanderbilt ging in die Defensive, und der Prasident horte ihr zu. Nach endlosen Telefonaten hatte sie sich einen Status quo des Weltuntergangs verschafft und wartete voller Ungeduld darauf, mit dem Verteidigungsminister verbunden zu werden. Sie wollte den Einsatz der Schiffe besprechen, die am folgenden Tag zur ersten Sonarattacke auslaufen sollten. Der Verteidigungsminister hing in einer Besprechung fest. Einige Minuten blieben ihr noch, also spielte sie Schumann vor der Kulisse eines exorbitanten Sternenhimmels.

Es war kurz vor 2.00 Uhr. Das Telefon schellte. Li sprang auf und stellte die Verbindung her. Sie hatte das Pentagon erwartet und war einen Moment lang verblufft, wessen Stimme sie stattdessen horte.

»Dr. Johanson! Was kann ich fur Sie tun?«

»Haben Sie Zeit?«

»Wann? Jetzt?«

»Ich wurde Sie gerne unter vier Augen sprechen, General.« »Ungunstig im Moment. Ich muss ein paar Telefonate fuhren. Sagen wir, in einer Stunde?«

»Sind Sie nicht neugierig?«

»Helfen Sie mir auf die Sprunge.«

»Sie waren der Meinung, ich hatte eine Theorie.«

»Oh, richtig!« Sie uberlegte eine Sekunde. »Gut.

Kommen Sie.«

Mit einem Lacheln legte sie auf. Genau so hatte sie es erwartet. Johanson war nicht der Typ, der Fristen bis zur letzten Sekunde ausreizte, und zu hoflich, sie verstreichen zu lassen. Er wollte den Zeitpunkt bestimmen, und sei es mitten in der Nacht.

Sie rief die Telefonzentrale an. »Verschieben Sie mein Telefonat mit dem Pentagon um eine halbe Stunde.« Sie uberlegte kurz, dann korrigierte sie sich: »Nein, um eine Stunde.«

Johanson wurde einiges zu erzahlen haben.

Vancouver Island

Nach Greywolfs Schilderung war Anawak der Appetit furs Erste vergangen. Doch Shoemaker ubertraf sich selbst. Er hatte preisverdachtige Steaks gebraten und einen bemerkenswerten Salat mit Croutons und Nussen kreiert. Sie a?en zu dritt auf seiner Veranda. Delaware vermied es, das Thema auf ihre neue Beziehung zu bringen, und erwies sich als uberaus unterhaltsam. Sie kannte eine Menge Witze und war sich nicht zu schade, noch die blodesten so zu erzahlen, dass man sie auf eine Buhne hatte stellen sollen. Sie war wirklich komisch.

Wie eine Insel lag der Abend in einem Meer von Elend.

Im mittelalterlichen Europa hatten sie getanzt und ein Fest gefeiert, wenn der Schwarze Tod umherging. Ganz so weit waren sie hier nicht, aber immerhin schafften sie es, mehrere Stunden lang uber alles Mogliche zu reden, nur nicht uber Tsunamis, Wale und Killeralgen. Anawak war dankbar fur die Abwechslung. Shoemaker erzahlte Geschichten aus den Anfangstagen von Davies. Sie lachten und schwatzten und genossen den milden Abend, streckten die Beine aus und sahen hinaus aufs schwarze Wasser der Bucht.

Etwa um zwei hatte sich Anawak verabschiedet. Delaware war geblieben. Sie und Shoemaker hatten sich an alten Kinofilmen festgebissen und eine weitere Flasche Wein aufgemacht. Allmahlich begaben sie sich auf eine alkoholisierte Daseinsebene, also trank er ein letztes Wasser, bedankte sich und ging die nachtliche Hauptstra?e entlang zur Station. Dort schaltete er den Computer ein und loggte sich ins Internet.

Nach wenigen Minuten hatte er Professor Dr. Kurzweil gefunden.

Im Morgengrauen begann sich ein Bild abzuzeichnen.

12. Mai

Chateau Whistler, Kanada

Moglicherweise, dachte Johanson, ist das der Wendepunkt. Oder ich bin ein alter Spinner.

Er stand auf dem kleinen Podium links von der Projektionsflache. Der Beamer war ausgeschaltet. Sie hatten einige Minuten auf Anawak warten mussen, der in Tofino ubernachtet hatte, aber jetzt waren sie vollzahlig. In der vordersten Reihe sa?en Peak, Vanderbilt und Li. Peak wirkte erschopft. Er war in der Nacht aus New York zuruckgekehrt und sah aus, als habe er dort den gro?ten Teil seiner Kraft gelassen.

Johanson, der sein halbes Leben in Horsalen verbracht hatte, war es gewohnt, zu anderen Menschen zu sprechen. Hin und wieder hatte er dem Schulwissen eigene Erkenntnisse und Hypothesen hinzugefugt und in Kauf genommen, sich mit echten und selbst ernannten Fachleuten daruber zu streiten. Ansonsten waren Horsale sicheres Terrain. Man gab weiter, was andere herausgefunden hatten, und fragte es ab.