Der Schwarm, стр. 142

An diesem Abend und in den darauf folgenden Tagen wurden in Brooklyn und Queens, auf Staten Island und in Manhattan eine Menge Autos gewaschen, die von Long Island hergekommen waren. Viel Abwasser floss in die Eingeweide der Metropole, verteilte sich dann, vereinte sich mit anderen Abwassern, wurde in Wiederaufbereitungsanlagen gepumpt und zuruck in die Wasserverteiler geleitet. Schon wenige Stunden, nachdem der 24-Stunden-Service Hensons Transporter blitzblank abgeliefert hatte, war alles untrennbar miteinander vermischt.

Keine sechs Stunden spater rasten die ersten Notarztwagen durch die Stra?en.

11. Mai

Chateau Whistler, Kanada

Mit Veranderungen konnte man sich arrangieren.

Er zumindest konnte es. Sosehr es ihn schmerzte, sein Haus verloren zu haben, konnte er damit leben. Das Ende seiner Ehe war ein Anfang gewesen. Der Umzug nach Trondheim, die immer neuen Beziehungen, die unterm Strich eine Beziehungslosigkeit ergaben, kaum etwas davon war ihm je wirklich nahe gegangen. Was nicht Johansons Verstandnis von Sinnlichkeit, Wohlklang und Geschmack entsprochen hatte, war dem Kehrichthaufen der Geschichte uberantwortet worden. Man teilte die Oberflache mit anderen und hatte die Tiefe fur sich. So lie? es sich leben.

Jetzt, in den fruhen Morgenstunden, holte ihn der weniger wohlklingende Teil seiner Vergangenheit ein. Nachdem er das linke Auge mehr aus Zufall geoffnet hatte, lag er eine Weile da, betrachtete die Welt aus seiner zyklopischen Perspektive und dachte an die Menschen in seinem Leben, die an Veranderungen gescheitert waren.

Seine Frau.

Man lernte, dass einem das eigene Leben selbst gehorte, dass man Einfluss darauf hatte. Aber als er gegangen war, hatte sie erkennen mussen, dass ihr nichts gehorte und dass Selbstbestimmung pure Illusion war. Sie hatte argumentiert, gefleht, geschrien, Verstandnis gezeigt, geduldig zugehort und Rucksicht erbeten, alle Register gezogen, um am Ende doch zuruckzubleiben, machtlos, entmachtet, rausgeworfen aus dem gemeinsamen Leben wie aus einem fahrenden Zug. Aller Kraft beraubt hatte sie aufgehort zu glauben, dass Anstrengung etwas bewirkt. Sie hatte verloren. Das Leben war ein Glucksspiel.

Wenn du mich nicht mehr liebst, hatte sie gesagt, warum kannst du dann nicht wenigstens so tun?

Wurde es dir dann besser gehen?, hatte er gefragt.

Nein, war ihre Antwort gewesen. Es ware mir besser gegangen, wenn du gar nicht erst damit angefangen hattest, mich zu lieben.

Machte man sich schuldig, wenn man plotzlich anders fuhlte? Gefuhle lagen jenseits von Schuld oder Unschuld, sie waren Ausdruck biochemischer Prozesse als Folge erlittener Umstande, so unromantisch das auch klingen mochte, aber die Endorphine hatten noch uber jede Romantik triumphiert. Also worin lag die Schuld? Falsche Versprechungen gemacht zu haben?

Johanson offnete das andere Auge.

Fur ihn war Veranderung immer Lebenselixier gewesen. Fur sie Lebensentzug. Nach Jahren — er lebte mittlerweile in Trondheim — erzahlte man ihm, es sei ihr endlich gelungen, die Ohnmacht abzuschutteln. Sie habe wieder begonnen, Einfluss auf sich zu nehmen. Schlie?lich horte er, es gabe einen neuen Mann in ihrem Leben. Danach hatten sie einige Male telefoniert, ohne Groll auf— oder Verlangen nacheinander. Die Bitterkeit war an sich selber zugrunde gegangen, der Druck von ihm genommen.

Doch er war zuruckgekehrt.

Jetzt hie? er Tina Lund, und sie verfolgte ihn mit ihrem schonen, blassen Gesicht. Seitdem spielte er alle Varianten durch, immer wieder aufs Neue. Dazu gehorte, dass sie am See doch miteinander geschlafen hatten. Alles ware anders gekommen. Sie hatten mehr Zeit miteinander verbracht.

Vielleicht, dass sie mit ihm auf die Shetlands geflogen ware. Ebenso gut hatte es alles zerstoren konnen, und er ware der Letzte gewesen, von dem sie Ratschlage angenommen hatte. Den Ratschlag zum Beispiel, nach Sveggesundet zu fahren. So oder so wurde sie noch leben.

Immer wieder sagte er sich, dass es Irrsinn war, so zu denken. Immer wieder dachte er so.

Fruhes Sonnenlicht fiel ins Zimmer. Er hatte die Vorhange offen gelassen, wie er es immer tat. Verhangte Schlafzimmer waren wie Gruften. Er uberlegte, ob er aufstehen und fruhstucken sollte, aber eigentlich hatte er keine Lust, sich uberhaupt zu bewegen. Lunds Tod erfullte ihn mit Traurigkeit. Er war nicht verliebt gewesen, aber auf unbestimmte Weise hatte er sie doch geliebt, ihre ruhelose Art, ihren Drang nach Freiheit. Darin hatten sie sich gefunden. Und verloren, weil es widersinnig war, Freiheit und Freiheit aneinander zu ketten. Vielleicht waren sie auch beide nur zu feige gewesen.

Was nutzte das jetzt?

Auch ich werde irgendwann tot sein, dachte er. Seit Lund in der Welle umgekommen war, dachte er oft an den Tod. Nie hatte er sich alt gefuhlt. Jetzt war es mitunter, als habe ihm die Vorsehung einen Pragestempel aufgedruckt, ein Mindesthaltbarkeitsdatum wie einem Becher Joghurt, und jemand schien ihn zu betrachten und zuruck ins Regal zu stellen, weil er kurz davor stand abzulaufen. Er war 56 Jahre alt, in bemerkenswert guter Verfassung, der Statistik unfall— und krankheitsbedingter Todesfalle bislang von der Schippe gesprungen. Sogar einen heranrasenden Tsunami hatte er uberlebt. Dennoch konnte kein Zweifel daran bestehen, dass seine Zeit ablief. Der gro?te Teil des Lebens lag unwiederbringlich hinter ihm. Und er fragte sich plotzlich, ob er es richtig gelebt hatte.

Zwei Frauen in diesem Leben hatten ihm vertraut, und beide hatte er nicht schutzen konnen. Die eine war vorubergehend gestorben, die andere fur immer.

Karen Weaver lebte.

Sie erinnerte ihn an Lund. Weniger hektisch, verschlossen, von schwererem Gemut. Dafur ebenso stark, zah und ungeduldig. Nachdem sie der Riesenwelle entkommen waren, hatte er ihr seine Theorie unterbreitet und sie ihn im Gegenzug mit der Arbeit von Lukas Bauer vertraut gemacht. Schlie?lich war er zuruck nach Norwegen geflogen, um sich auf der Obdachlosenliste wieder zu finden, aber die Gebaude der NTNU standen noch. Man uberhaufte ihn mit Arbeit, bis ihn der Ruf aus Kanada ereilte, und er schaffte es nicht mehr hinaus zum See. Er schlug vor, Weaver mit ins Team zu nehmen, weil sie mehr als jeder andere uber Bauers Arbeit wusste und in der Lage war, sie weiterzuentwickeln, aber insgeheim hatte er andere Grunde. Ohne den Helikopter hatte sie die Welle kaum uberlebt. Insofern hatte er sie gerettet. Weaver erteilte ihm Absolution fur sein Versagen bei Lund, und er war entschlossen, sich dessen wurdig zu erweisen. Kunftig wurde er auf sie Acht geben, und dafur war es gut, sie in der Nahe zu wissen.

Die Vergangenheit verblasste im Sonnenlicht. Er stand auf, ging duschen und erschien um 6.30 Uhr am Buffet, um festzustellen, dass er nicht der einzige Fruhaufsteher war. In dem geraumigen Saal tranken Soldaten und Geheimdienstler Kaffee, a?en Obst und Musli und fuhrten gedampfte Unterhaltungen. Johanson haufte sich einen Teller voll Ruhrei mit Speck und suchte nach einem Gesicht, das er kannte. Er hatte gerne mit Bohrmann gefruhstuckt, aber der war nirgendwo zu finden. Stattdessen sah er General Commander Judith Li allein an einem Zweiertisch sitzen. Sie blatterte in einem Schnellhefter und pickte von Zeit zu Zeit ein Stuck Obst aus einer Schale, das sie in den Mund schob, ohne es anzusehen.

Johanson betrachtete sie. Li faszinierte ihn auf unbestimmte Weise. Er schatzte, dass sie junger aussah, als sie war. Mit etwas Make-up und entsprechend gekleidet hatte sie den Mittelpunkt jeder Party abgegeben. Er fragte sich, was man unternehmen musste, um mit ihr ins Bett zu gehen, aber wahrscheinlich unternahm man besser gar nichts. Li sah nicht aus wie jemand, der anderen die Initiative uberlie?. Au?erdem, eine Affare mit einem General Commander der US-Streitkrafte, das ging nun wirklich zu weit.