Die geheime Reise der Mariposa, стр. 51

Am einen Ende der Bank war eine Vertiefung in den Stein geschlagen worden, etwas wie ein flaches Becken. Ein flaches Becken, das das Regenwasser fing. Marit war mit zwei Schritten bei dem Becken und streckte die Hand hinein – es war leer. Vielleicht war Wasser darin gewesen und die Hitze des Tages hatte es verdunsten lassen oder ein Tier hatte es getrunken. Sie lie? sich auf die Bank fallen. Es war, als hatten die Hoffnung auf Wasser und die Enttauschung ihr die letzte Kraft genommen. Auf einmal hatte sie das Gefuhl, sie konnte nie, nie wieder von dieser Steinbank aufstehen.

Jose stand uber die Karte gebeugt. »Wenn dies hier also keine Nullen sind«, sagte er zogernd, »dann … dann sind es noch hundert. Hundert Schritte geradeaus, danach rechts und noch einmal funfzig Schritte. Dann sind wir dort, wo auf der Karte das schwarze Kreuz ist.« Er musterte Marit. »Soll ich allein gehen? Willst du hier warten?«

»Nein«, flusterte sie. »Nein, ich gehe mit. Ich habe die ganze verdammte Reise nur gemacht, um dir zu helfen, dieses Kreuz zu finden.«

Jose zog sie hoch. »Komm«, sagte er. Aber sie gingen jetzt langsam. Und es lag nicht nur an ihrer Erschopfung.

Es war ein seltsames Gefuhl, so nahe am Ziel zu sein. Da segelte man tage- und nachtelang uber den Pazifik, floh vor dem Feuer, uberlebte Sturme, lie? sich auf einem Flo? ans Ufer treiben – und plotzlich sollte das Ende der Reise nur noch wenige Schritte entfernt sein.

Der letzte leere Schildkrotenpanzer besa? einen Sprung wie eine Schale, die jemand hatte fallen lassen. Als sie sich bei dem Panzer nach rechts wandten, standen sie noch immer in dichtem Wald. Aber dieses Stuck Weg schien Marit breiter. Als wurde es noch benutzt. Sie sah keine Spuren, die Erde war trocken und krumelig, und doch –

»Jose«, flusterte sie. »Warte! Was … was glaubst du, was ist es? Das Ziel? Das schwarze Kreuz?«

»Ich wei? nicht«, sagte er. »Vielleicht ist es nur eine Stelle, an der man graben muss. Vielleicht ist es eine Erklarung dafur, weshalb man auf der Isla Maldita Stimmen hort und Fackeln sieht. Vielleicht treten dort irgendwelche Dampfe aus der Erde. Oder vielleicht … vielleicht finden wir trotz allem einen Funkmast der Deutschen.«

»Den«, sagte Marit, »hatten wir inzwischen wohl uber die Baume gesehen.«

Die allerletzten Schritte machten sie so langsam, als trugen sie Schuhe mit Blei in den Sohlen.

Marit merkte erst, dass sie sich an den Handen gefasst hatten, als sie das Zittern in Joses Hand spurte. Und dann traten sie aus dem Wald auf eine winzige Lichtung, auf der sparliches Gras wuchs. Der Boden war ausgetreten von Hufen und Pfoten, Marit sah die Abdrucke hier deutlich. Aber es war nichts da. Ein paar Felsen hatten sich am anderen Ende der Lichtung versammelt wie versteinerte Riesenschildkroten. Sie gingen zu den Felsen hinuber. Die Felsen saumten etwas. Ein Versteck.

Erst als sie ganz nahe standen, sahen sie, was es war:

Zwischen den Steinen lag eine blanke, spiegelglatte, glanzende Flache. Nur an einer Stelle storte eine Bewegung ihre Glatte. Dort rann etwas den Felsen hinab, rann aus einem Spalt weiter oben.

»Wasser«, sagte Jose verblufft. »Es ist Wasser. Das schwarze Kreuz auf meiner Karte … ist eine Quelle.«

Lied der Riesenschildkrote

Vor tausend und tausend mal tausend Jahren

kroch ich schon ubers Lavagestein.

Vor tausend und tausend mal tausend Jahren,

als die Menschen noch Kinder waren,

war der Pazifik mein.

Vor tausend und tausend mal tausend Jahren

schwamm ich schon mit dem Meeresgetier.

Vor tausend und tausend mal tausend Jahren,

ehe die Menschen den Hochmut gebaren,

gehorten die Inseln mir.

Tausend und tausend mal tausend Gelege

vergrub ich wie eine geheime Idee.

Tausend und tausend mal tausend Gelege

schlupften und fanden tausend Wege

zuruck in die rettende See.

Tausend und tausend Mal bin ich gestorben

durch des Menschen mordende Hand.

Tausend und tausend Mal bin ich gestorben,

ich wurde gestohlen, ich wurde verdorben,

und einsam lag er, der Strand.

Tausend Mal wurden Anker gelichtet,

und ich war an Bord, in dunklem Versteck.

Tausend Mal wurden Anker gelichtet,

und ich lag, lebendig zu Stapeln geschichtet,

zu Tausenden unter Deck.

Die Menschen denken, sie konnen vernichten,

die Menschen glauben, sie konnen richten,

aber sie irren sich sehr.

In tausend und tausend mal tausend Jahren,

wenn schon langst keine Schiffe mehr fahren,

dann spiele ich noch im Meer.

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Ayudame!

Hilf mir!

Sie beugten sich uber das kleine Becken, schopften mit den Handen Wasser und tranken und tranken und tranken. Sie betranken sich an dem klaren Wasser, tauchten ihre Gesichter hinein, bespritzten einander damit und lachten wie kleine Kinder. Und so viel sie auch davon tranken, es floss standig neues Wasser aus dem Felsspalt. Es war wie ein Wunder.

Irgendwo am Grund des naturlichen Steinbeckens versickerte das Wasser wohl in der Erde, und jetzt sah Marit auch, wie viel gruner es im Umkreis der Quelle war, wie viel ubermutiger und hoher die Pflanzen sprossen. Sie sah, woran es lag, dass sie hier plotzlich Spuren erkennen konnte: Die Erde war nicht langer trocken und krumelig. Sie war durchdrungen von Feuchtigkeit.

Schlie?lich lie?en Jose und sie sich auf jenen feuchten Boden fallen und lagen einfach da und sahen in die Baumwipfel hinauf.

»Wir werden uberleben«, sagte Jose. »Auch nach der Regenzeit. Die Quelle hat genug Wasser, sie versiegt nicht so schnell.«

»Ja«, sagte Marit. »Wir werden uberleben.«

Sie setzte sich auf und malte Linien in die feuchte Erde. Ein Schiff.

»Nach der Regenzeit …«, murmelte sie. »Was glaubst du, wann kommt das nachste Schiff vorbei, das uns mitnehmen kann?«

»Irgendwann«, murmelte Jose. »Sie … kommen nicht so nahe an die Insel heran … Vielleicht …«

»Vielleicht kommt gar kein Schiff«, sagte Marit. »Nie. So ist es doch, nicht wahr?«

»Ach Unsinn«, knurrte Jose. Und dann hieb er mit der Faust in den Schlamm, dass es spritzte. »Ist das nicht irre?«, sagte er. »Da segle ich los, um einen Schatz zu finden oder ein Nest von Spionen. Ich segle von Baltra los, einer Insel, auf der es tonnenweise Wasser in Flaschen gibt, und wozu das alles? Um Wasser zu finden!«

»Hattest du lieber eine Kiste voll Gold und Edelsteinen gefunden?«, fragte Marit sanft. »Und warst jammerlich mit deiner Kiste im Arm verdurstet?«

Jose schnaubte und stand auf. »Wenn wir eine Weile hierbleiben«, sagte er, »sollten wir uns einen Unterschlupf suchen. Wir ziehen in die Hohlen. Furs Erste, allerliebste Schwester«, fugte er mit einem schiefen Grinsen hinzu, »muss das reichen.«

»Furs Erste reicht es, allerliebster Bruder«, sagte Marit.

Jose wanderte allein zum Strand zuruck, um Kurts Oktopusvorrat zu holen.

Marit brach ein paar Zweige ab, band sie mit einer Kletterpflanze zu einer Art Besen zusammen und begann die gro?ere Hohle – die mit der Bank – auszufegen. Dabei fand sie in den dunklen Schatten ganz hinten etwas Wunderbares: einen Topf und ein paar Glasscherben. Die Scherben konnte man womoglich als Messer benutzen. Der Topf war schwarz und dreckig und uralt, aber dicht. Marit sauberte ihn und holte Wasser, um das Becken in der Bank aufzufullen. Sie besorgte Feuerholz und errichtete ein Lager aus Asten und Blattern, auf dem sie weicher schlafen wurden als auf dem blo?en Steinboden. Sie pfluckte noch mehr Guaven. Ihre Hande arbeiteten rasch und sie summte dabei. Es war wie ein Spiel, das sie fruher im Hof gespielt hatten, vor unendlich langer Zeit: damals, als selbst Richard noch klein gewesen war. Der Schuppen war ihr Haus gewesen und sie hatten Tische aus Holzscheiten errichtet und Betten aus alten Kuchentuchern. Sie hatten Lowenzahnsuppe gekocht und Pudding aus Erde …