Zerfetzte Flaggen: Leutnant Richard Bolitho in der Karibik, стр. 62

XV Noch eine Chance

Bolitho stand im Schatten des gewaltigen Gro?mastes und beobachtete das geschaftige Treiben rund um das Schiff. Es war jetzt Oktober, und seit zwei Monaten lag die Trojan in English Harbour, Antigua, dem Hauptquartier des Karibischen Geschwaders. Eine Menge Schiffe waren hier versammelt und warteten auf Reparaturen und Uberholung; bei den meisten sollten jedoch nur Abnutzungsschaden durch Sturm oder Alter ausgebessert werden. Die Ankunft der Trojan, deren Flagge wegen der vielen Toten auf halbmast wehte, hatte betrachtliches Aufsehen erregt. Wenn man jetzt ihre straffgespannte Takelage betrachtete, die neuen Wanten und ordentlichen Segel, die sauberlich ausgebesserten Decks, konnte man sich kaum mehr den Kampf vorstellen, der all diese Schaden angerichtet hatte.

Er beschirmte die Augen, um zur Kuste hinuberzublicken: verstreute wei?e Gebaude, das vertraute Bild von Monk's Hill. Eine wahre Prozession von Booten, Werftprahmen und Wasserleichtern war unterwegs, dazwischen die unvermeidlichen Handlerboote, die den unerfahrenen oder torichten Seeleuten ihre zweifelhaften Waren anboten.

An Bord hatte es eine Menge Anderungen gegeben. Neue Leute kamen von anderen Schiffen, aus England und aus den karibischen Hafen, die alle erprobt und in die Besatzung eingereiht werden sollten.

Ein Leutnant John Pointer war eingetroffen und auf Grund seines Dienstalters als Vierter Offizier eingestuft worden, wie einstmals Bolitho. Es war ein frohlicher junger Mann mit ausgepragtem Yorkshire-Dialekt, anscheinend tuchtig und willig.

Der junge Fahnrich Libby, dem man seinen zeitweiligen Rang wieder abgesprochen hatte, war eines schonen Morgens zum Flaggschiff gerufen worden, um sein Leutnantsexamen abzulegen. Er bestand mit Auszeichnung und war selbst der einzige, der sich uber dieses Ergebnis wunderte. Anschlie?end wurde er gleich als Leutnant auf ein anderes Linienschiff versetzt. Sein Abschied war eine traurige Angelegenheit, sowohl fur ihn wie fur die anderen Fahnriche. Zwei neue waren inzwischen aus England eingetroffen, nach Bunces Ansicht» noch schlechter als nutzlos».

Von Coutts hatten sie nur gehort, da? er nach New York zuruckgekehrt war. Beforderungen schienen angesichts der letzten Ereignisse unwichtig.

Auf dem Festland sollte General Burgoyne, der in den Anfangstagen der Revolution mit einigem Erfolg von Kanada aus operiert hatte, die Kontrolle uber den Hudson River sicherstellen. Mit der ihm eigenen raschen Entschlossenheit war er mit etwa siebentausend Mann in das betreffende Gebiet aufgebrochen und hatte erwartet, von der New Yorker Garnison Verstarkung zu erhalten. Nun hatte dort aber jemand entschieden, da? in New York kaum genug Soldaten zur eigenen Verteidigung bereitstunden.

General Burgoyne hatte vergeblich gewartet und sich dann mit all seinen Truppen bei Saratoga ergeben.

Sofort horte man auch wieder von gro?erer Aktivitat der franzosischen Kaperschiffe, welche die militarische Niederlage ermutigte.

Die Trojan wurde bald wieder in die Kampfe eingreifen konnen, aber Bolitho sah keinerlei Chance, auch nur einen Zipfel der abgefallenen Kolonie zuruckzugewinnen, selbst wenn Britannien die See beherrschte. Und bei starkerer franzosischer Einmischung war nicht einmal das sicher.

Bolitho ging ruhelos auf und ab und beobachtete ein weiteres Handlerboot, das gerade das glitzernde Spiegelbild der Trojan passierte. Es war hei?, aber nach den vorangegangenen Monaten und den tropischen Regengussen erschien es ihm beinahe angenehm.

Er blickte nach achtern, wo die Flagge schlaff und reglos herabhing. In der Kajute mu?te es sogar noch hei?er sein als hier an

Deck.

Er versuchte, an Quinn wie an einen Fremden zu denken, den er gerade erst kennengelernt hatte. Aber in seiner Erinnerung lebte er fort als der jungste Leutnant, der neu an Bord gekommen war, achtzehn Jahre alt und direkt vom Fahnrichslogis, so wie Libby jetzt. Dann sah er ihn wieder im Todeskampf keuchen, mit der ungeheuren Sabelwunde quer uber seine Brust. Und das nach seiner ruhigen Zuversicht, seiner Entschlossenheit, gegen den Willen seines wohlhabenden Vaters Seeoffizier zu werden.

Diese letzten Wochen mu?ten fur Quinn die Holle gewesen sein. Er war von seinen Pflichten entbunden worden, und wenn er vorlaufig auch seinen Dienstgrad behielt, so war er jetzt doch sogar dienstjunger als der neuangekommene Leutnant Pointer.

Wegen der Aktivitat innerhalb des Geschwaders und der allgemeinen Erwartung starkeren franzosischen Engagements hatte der Fall Quinn zunachst nur eine untergeordnete Rolle gespielt.

Jetzt, im Oktober 1777, wurde Quinn in Pears Kabine von einem Untersuchungsausschu? vernommen. Es war die letzte Stufe vor dem eigentlichen Kriegsgericht.

Bolitho betrachtete die anderen Schiffe, die so ruhig in diesem geschutzten Hafen lagen, jedes uber seinem eigenen Spiegelbild, mit aufgespannten Sonnensegeln, die Stuckpforten weit offen, um auch den leisesten Hauch einzufangen. Sehr bald wurden diese und auch andere Schiffe das durchmachen, was die Trojan vor den Geschutzen der Argonaute durchgemacht hatte. Sie wurden dann nicht mehr gegen wackere, aber schlecht ausgebildete Rebellen kampfen, sondern gegen die Besten Frankreichs. Die Disziplin mu?te gestrafft, ein Versagen konnte nicht mehr hingenommen werden. All dies lie? Quinns Chancen schrumpfen.

Bolitho wandte sich um, als Leutnant Arthur Frowd, der wachhabende Offizier, das Deck uberquerte und zu ihm heruberkam. Wie Libby, so hatte auch er die begehrte Beforderung erhalten und erwartete nun seine Versetzung auf ein anderes Schiff. Obwohl der dienstjungste Leutnant, war er doch der alteste an Jahren. In seiner prachtigen neuen Uniform, das Haar ordentlich im Nacken zusammengebunden, sah er so gut aus wie ein Kapitan, dachte Bolitho bewundernd.

Frowd fragte:»Wie, nehmen Sie an, wird es ausgehen?«Er nannte Quinn nicht einmal mit Namen. Wie viele andere, furchtete er wahrscheinlich, mit Quinn in irgendeinen Zusammenhang gebracht zu werden.»Ich bin mir nicht sicher.»

Bolitho nestelte nervos an seinem Degengriff und fragte sich, warum es so lange dauerte. Cairns war nach achtern gerufen worden, ebenso d'Esterre und Bunce. Es war eine gra?liche Sache, ahnlich wie der Anblick der Kriegsgerichtsflagge oder wie die rituelle Prozession von Booten bei einem offentlichen Auspeitschen oder beim Erhangen.

Er sagte:»Ich hatte auch Angst, also mu? es fur ihn noch viel schlimmer gewesen sein. Aber.»

Frowd sagte heftig: — »Aber, Sir, dieses kleine Wort macht den Unterschied. Jeder einfache Seemann wurde schon langst von der Gro?rah baumeln.»

Bolitho sagte nichts, sondern wartete darauf, da? Frowd wegging, um mit dem Wachboot zu sprechen, das langsseits lag. Frowd verstand dies nicht. Wie sollte er auch? Es war schwer genug fur einen jungen Mann, den Rang eines Leutnants zu erwerben. Auf dem Weg uber das untere Deck war dies noch viel, viel schwerer. Frowd hatte es mit Schwei?, aber wenig Erziehung geschafft. Er mu?te Quinns Versagen eher als Verrat denn als Schwache ansehen.

Sergeant Shears marschierte uber das Achterdeck und beruhrte gru?end seinen Hut. Bolitho sah ihn an.»Ich?»

«Ja, Sir. «Shears warf einen raschen Blick auf die Umstehenden.»Es sieht nicht gut aus, Sir. «Er senkte die Stimme zu einem Flustern.»Mein Hauptmann machte seine Aussage, und ein Ausschu?mitglied bemerkte hochnasig: „Was wei? schon ein Marineinfanterist uber Seeoffiziere!"«Wutend fugte Shears hinzu:»Ich habe noch nie solche Arroganz erlebt, Sir!»

Bolitho ging rasch nach achtern und packte dabei seinen Degengriff mit aller Kraft, um sich innerlich vorzubereiten.

Pears Salon war ausgeraumt worden, an Stelle der Mobel stand ein gro?er, kahler Tisch da, an dem drei Kapitane sa?en.

Andere Offiziere sa?en ringsum an den Wanden, gro?tenteils waren sie ihm unbekannt; aber er sah auch die Zeugen: Cairns, d'Esterre und, die Hande im Scho? gefaltet, Kapitan Pears.