Zerfetzte Flaggen: Leutnant Richard Bolitho in der Karibik, стр. 6

hatte.

Er stellte sich vor, welchen Eindruck die Trojan wohl vom Land aus machte: die Galionsfigur — der grimmig blickende trojanische Krieger — Bugsprit und Kluverbaum, ja die ganze Back vom Gischt uberspruht; der massige, schwarz und lederfarben glanzende Rumpf, der die vorbeizischenden wei?en Schaumkronen widerspiegelte, als wolle er sich vom Lande reinwaschen.

Probyns grobe Stimme ertonte von vorn, wo er seinen Leuten beim Kalten des zweiten Ankers Anweisungen zuschrie. Er wurde nach diesem Geschrei viel trinken mussen, dachte Bolitho.

Er blickte nach achtern, hinweg uber seine eigenen Seeleute, die teils an den Stagen herunterrutschten, teils aus den Wanten herabsprangen und unten vor dem Mast wieder antraten. Dann sah er, da? der Kommandant ihn beobachtete. Uber das halbe Schiff hinweg, durch all das Gewuhl und Gehaste, schienen ihre Blicke sich zu begegnen.

Verlegen griff Bolitho nach oben und ruckte seinen Hut zurecht; er meinte, ein kleines, aber nachdruckliches Nicken des Kommandanten bemerkt zu haben.

Aber die traumerische Stimmung war bald wieder verflogen, die Trojan lie? keinem Zeit fur Phantastereien.»An die Brassen! Klar zum Wenden!«Sparke rief:»Mr. Bolitho!»

Bolitho legte die Hand an den Hut.»Aye, Sir, ich wei?. Notieren Sie den Mann da!»

Als das Wendemanover zu des Kommandanten und auch zu Bunces Zufriedenheit ausgefuhrt, das Schiff uber Stag gegangen und auf den neuen Kurs eingesteuert war, hatten Regen und Dunst das achteraus liegende Land bereits verschluckt.

II Ein verwegener Plan

Leutnant Richard Bolitho ging zur Luvseite des Achterdecks und griff in das Mattennetz, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Uber und vor ihm turmten sich die gewaltigen Pyramiden der Segel, beeindruckend selbst fur jemanden, der diesen Anblick gewohnt war. Besonders nach all der Enttauschung und Muhe der letzten viereinhalb Tage, dachte er.

Der Wind, der ihnen von Sandy Hook aus so vielversprechend gefolgt war, hatte innerhalb weniger Stunden gedreht, als habe der Teufel selbst die Hand im Spiel. Ohne Warnung sprang er um, schralte, frischte auf oder flaute ab, so da? keine Wache ohne wenigstens ein Alle-Mann-Manover auskam, um Segel zu reffen, zu bergen oder wieder zu setzen. Ein ganzer Tag war notig gewesen, um die gefurchteten Nantucketbanke zu umrunden. Die See kochte unter dem Kluverbaum, als wurde sie von der Holle angeheizt.

Als sie dann allmahlich wieder vier, ja funf Knoten Fahrt machten, hatte der Wind erneut gedreht und aufgefrischt. In den heulenden, orgelnden Boen kampften die atemlosen Seeleute mit dem von der Nasse steifen Segeltuch, packten mit schwieligen Fausten hinein, um zu reffen, wahrend die stampfende Welt um sie herum, hoch uber dem Deck, verruckt spielte.

Aber jetzt war es anders. Die Trojan steuerte beinahe rechtweisend Nord, die Rahen hart angebra?t, um so viel wie moglich vom Wind auszunutzen, und auf ihrer Leeseite schaumte das Wasser als Beweis ihrer beachtlichen Fahrt.

Bolitho lie? den Blick uber das obere Batteriedeck schweifen.

Unter der Schanzreling lungerten die Leute herum und schwatzten wie immer, wenn sie gespannt darauf warteten, was der Koch ihnen wohl zu Mittag vorsetzen wurde. Aus dem fettigen Qualm, der aus dem Kombusenschornstein quoll und nach Lee davonzog, schlo? Bolitho, da? es wieder einmal das Gebrau aus gehacktem Salzfleisch war, herausgekratzt aus den verkrusteten Fassern, gemischt mit feucht gewordenem, glitschigem und muffigem Schiffszwieback, Hafermehl und den Resten vom Vortag. George Triphook, den Chefkoch, ha?te jeder mit Ausnahme einiger Speichellecker, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen schien er diesen Ha? und die gegen ihn laut werdenden Fluche von Herzen zu genie?en.

Bolitho spurte plotzlich Hei?hunger; aber ihm war klar, da? das Essen, das ihn nach seiner Ablosung in der Messe erwartete, kaum besser sein wurde als dieser Fra? hier.

Dann dachte er an seine Mutter und an das gro?e graue Haus in Falmouth. Er ging ein paar Schritte zur Seite und lie? Couzens stehen, seinen aufmerksamen Midshipman, der ihm sonst auf Schritt und Tritt folgte.

Wie furchtbar der Schlag gewesen war! In der Marine riskierte man sein Leben wohl ein dutzendmal am Tage auf die verschiedenste Weise: durch Krankheit, Schiffbruch, Kanonendonner. Die Wande der Kirche in Falmouth hingen voller Gedenktafeln mit den Namen und Taten von Seeoffizieren — Sohnen der Stadt Falmouth — , die mit ihren Schiffen ausgelaufen waren, um nie mehr zuruckzukommen.

Aber seine Mutter! Bei ihr dachte man nicht an so etwas. Sie war immer jugendlich und voller Leben gewesen, immer bereit, einzuspringen und die Verantwortung fur die Familie auf ihre Schultern zu laden, die Verantwortung fur Haus und Land, wenn der Vater, Kapitan James Bolitho, nicht daheim war. Und das war oft der Fall.

Bolitho und sein Bruder Hugh, seine beiden Schwestern Felicity und Nancy, sie alle hatten die Mutter geliebt, jeder auf seine Weise. Als er von der Destiny nach Hause gekommen war, noch an den Folgen seiner Verwundung leidend, hatte er sie notiger gebraucht denn je. Aber sie war tot. Er konnte sich auch jetzt noch nicht vorstellen, da? sie nicht daheim war in Falmouth, die See unter Pendennis Castle mit einem Lachen beobachtete, das ansteckend wirkte und alle Niedergeschlagenheit beiseite fegte.

Eine Erkaltung, hatten sie gesagt, dann ein plotzliches Fieber. In wenigen Wochen war es zu Ende gewesen.

Er konnte sich seinen Vater vorstellen, jetzt, in diesem Augenblick: Captain James, unter diesem Namen kannte und schatzte man ihn daheim. Er war ein angesehener Friedensrichter, seit er seinen Arm verloren hatte und aus dem aktiven Dienst ausscheiden mu?te. Das Haus im Winter, die schlammigen, heckengesaumten Wege, auf denen die Neuigkeiten immer etwas verspatet eintrafen, die Landbevolkerung war viel zu beschaftigt mit ihren eigenen Sorgen, mit der Kalte, der Nasse, verlorenen Tieren, raubernden Fuchsen und anderem, um sich fur den weit entfernten Krieg zu interessieren. Aber sein Vater tat es. Wie ein Kriegsschiff, das bei Carrick Roads vor Anker lag, so brutete er vor sich hin und sehnte sich nach dem Leben, das ihn ausgesto?en, ihn zuruckgewiesen hatte. Nun war er vollstandig allein.

Fur ihn mu? es tausendmal schwerer sein, dachte Bolitho traurig.

Cairns erschien an Deck und kam nach einem prufenden Blick auf Kompa? und Schiefertafel, wo der Steuermannsmaat der Wache seine halbstundlichen Eintragungen machte, heruber zu Bo-litho.

Dieser beruhrte gru?end seinen Hut.»Sie liegt stetig, Sir. Nord bei Ost, voll und bei.»

Cairns nickte. Er hatte sehr helle Augen, die durch einen hindurchsehen konnten.

«Wir mussen wohl reffen, wenn es noch mehr auffrischt. Trotzdem lassen wir soviel wie moglich stehen.»

Er hielt die Hand uber die Augen, als er jetzt nach Backbord blickte, denn obwohl die Sonne nicht schien, war die Strahlung intensiv und blendete. Es war schwierig, die Grenze zwischen Himmel und Wasser zu erkennen, die See wirkte wie eine Wuste ruhelosen, grau glanzenden Stahls. Aber der Abstand zwischen den einzelnen Brechern war jetzt gro?er, sie rollten unter Trojans fettem Heck hinweg, lufteten es und verursachten noch mehr Schlagseite. Gelegentlich brach sich einer von ihnen an der Luvpforte, bevor er zum jenseitigen Horizont weiterrollte.

Sie hatten den gesamten Seeraum fur sich allein, denn seit sie

Nantucket gerundet und Kurs auf die Einfahrt der Massachusetts Bay genommen hatten, waren sie nicht nur frei von Land, sondern auch von der ortlichen Kustenschiffahrt. Irgendwo in Luv, rund sechzig Meilen entfernt, lag Boston. An Bord der Trojan konnten sich nicht wenige noch an die Stadt erinnern, wie sie einmal gewesen war, bevor aus Spannung und Verbitterung offener Ha? und Blutvergie?en wurde.