Zerfetzte Flaggen: Leutnant Richard Bolitho in der Karibik, стр. 29

Jetzt wurden zwei weitere Manner die Treppe heruntergeschafft, einer entpuppte sich als Hummerfischer, der andere protestierte laut und behauptete, er sei uberhaupt kein Seemann. Bolitho musterte die Tatowierungen auf seinen Armen und sagte ruhig:»Ich rate dir, den Mund zu halten. Wenn du von einem Schiri des Konigs bist, wie ich vermute, ware Schweigen fur dich gesunder. «Der Mann wurde so bla? unter seiner Braune, als hatte er bereits die fur ihn bestimmte Schlinge des Henkers gesehen.

Ein Seemann polterte die Treppen herunter.»Das ist alles, Sir, au?er diesem Knaben hier.»

Bolitho sah, wie der Junge durch die Reihe der starrenden Madchen hindurchgeschoben wurde, und entschied sich gegen ihn. Vielleicht war er jemandes Sohn, der in dieser truben Spelunke ein erstes aufregendes Erlebnis gesucht hatte.

«Gut. Rufen Sie die anderen!«Er betrachtete den schmalschult-rigen Jungen, der mit niedergeschlagenen Augen im Schatten stand.»Das ist kein Ort fur dich, Kerlchen. Verschwinde, bevor etwas Schlimmeres passiert. Wo wohnst du?»

Als keine Antwort kam, streckte Bolitho die Hand aus und hob des anderen Kinn an, so da? das Lampenlicht voll auf das verangstigte Gesicht fiel.

Bolitho stand einen Augenblick wie versteinert. Dann ging alles sehr schnell. Der Bursche duckte sich und rannte aus der Tur, bevor sich jemand bewegen konnte.

Ein Seemann schrie: «Haltet den Mann!»

Vor dem Haus horte Bolitho die Soldaten rufen. Er lief hinaus.»Wartet!«Aber es war schon zu spat. Der Knall einer Muskete hallte wie Kanonendonner in der engen Gasse.

Er ging an seinen Leuten vorbei und beugte sich uber die ausgestreckte Gestalt, wahrend ein Korporal der Infanterie herbeieilte und den Korper auf den Rucken rollte.

«Er wollte Ihnen weglaufen, Sir!»

Bolitho kniete nieder, knopfte die grobe Jacke und das Hemd auf und legte die Hand auf die schmale Brust. Das Herz schlug nicht mehr, uberall war Blut. Die Haut, so zart wie vorher das Kinn, war noch warm, und die toten Augen starrten ihn anklagend aus der Dunkelheit an.

Er erhob sich, ihm war ubel.»Es ist ein Madchen.»

Dann wandte er sich um und rief:»Diese Frau, bringt sie her!»

Die» Lucy «genannte Person trat naher und rang die Hande, als sie die leblose Gestalt erblickte. Mit ihrer Arroganz war es vorbei. Bolitho konnte ihre Angst beinahe riechen.

«Wer war sie?«fragte er, erstaunt uber den harten Ton seiner Stimme, die ihm selbst fremd klang.»Ich frage kein zweites Mal, Frau!»

Mehr Larm erfullte die Stra?e, und zwei Berittene galoppierten durch die Heerespatrouille.»Was, zum Teufel, geht hier vor?«bellte eine Stimme.

Bolitho beruhrte gru?end seinen Hut.»Offizier der Hafenwache,

Sir!»

Der Fragende war ein Major, der dieselben Abzeichen trug wie der Unteroffizier, der das Madchen erschossen hatte.

«Oh, verstehe. Also dann. «Er stieg ab und beugte sich uber die Leiche.»Die Lampe, Korporal!«Die Hand unter dem Kopf des Madchens, drehte er dessen Gesicht dem Licht zu.

Bolitho war au?erstande, den Blick vom Gesicht der Toten abzuwenden.

Endlich stand der Major auf.»Schone Bescherung, Leutnant!«Er rieb sich das Kinn.»Es ist wohl besser, wenn ich den Gouverneur wecke. Er wird nicht sehr erfreut sein.»

«Wer war sie, Sir?»

Der Major schuttelte den Kopf.»Was Sie nicht wissen, kann Ihnen nicht schaden. «Dann, in verandertem Ton zu dem zweiten Reiter:»Korporal Fisher! Reiten Sie zur Kommandantur und wek-ken Sie den Adjutanten. Er soll mit einem Zug Soldaten sofort herkommen. «Er beobachtete, wie der Korporal losjagte, und fugte hinzu:»Dieses verdammte Haus wird jetzt geschlossen und bewacht, und Sie«, sein wei?behandschuhter Zeigefinger scho? vor und deutete auf die zitternde Lucy,»sind festgenommen!»

Jammernd sank sie fast zu Boden.»Wieso ich, Sir? Was hab' ich denn verbrochen?»

Der Major trat zur Seite, als zwei Soldaten herbeiliefen und Lucys Arme packten.»Verrat, Madam, das haben Sie verbrochen!»

Etwas ruhiger wandte er sich Bolitho zu.»Ich schlage vor, da? Sie weitermachen, Sir. Ohne Zweifel werden Sie noch mehr uber diesen Vorfall horen.«Uberraschenderweise lachelte er kurz.

«Wenn es ein Trost fur Sie ist: Sie sind da auf etwas wirklich Wichtiges gesto?en. Zu viele gute Leute sind schon Verrat zum Opfer gefallen. Aber hier liegt jemand, der nie mehr Verrat uben wird.»

Bolitho ging schweigend zum Hafen zuruck. Der Major hatte das tote Madchen erkannt, und nach der Feinheit ihrer Glieder, der Glatte ihrer Haut zu urteilten, stammte sie aus guter Familie.

Er versuchte sich vorzustellen, was in dem Haus vor sich gegangen war, bevor er und seine Leute dort eingedrungen waren; aber alles, woran er sich erinnern konnte, waren ihre Augen, mit denen sie ihn angeblickt hatte, als sie beide die Wahrheit begriffen.

VII Hoffnungen und Angste

Bolitho ging ein paar Schritte auf und ab, wobei er versuchte, im Schatten des gro?en Besansegels zu bleiben. Es herrschte druckende Hitze, und die leichte Brise, die uber das Achterdeck der Trojan wehte, brachte keinerlei Kuhlung.

Von der Back ertonten sechs Glasen, wahrend ein Schiffsjunge das Halbstundenglas umdrehte. Noch eine Stunde bis Mittag…

Bolitho zuckte zusammen, als die Sonne ihn voll traf und seine Schultern versengte. Aus der Halterung nahm er das Teleskop und richtete es nach vorn, wo das Flaggschiff Resolute gerade in der langen Dunung auftauchte. Wie rasch hatten sich doch die Dinge geandert, dachte er. Am Tag nach dem Tod des mysteriosen Madchens hatten sie Befehl bekommen, mit dem ersten gunstigen Wind auszulaufen. Uber ihr Ziel war nicht das geringste erwahnt worden, und bis zuletzt hatten die Zyniker in der Messe behauptet, es handle sich wieder nur um eine Ubung oder darum, zur moralischen Unterstutzung des Heeres Flagge zu zeigen.

Das war vor vier Tagen gewesen, vor vier muhevollen Tagen des langsamen Dahinkriechens in sudlicher Richtung. Kaum zeigten ein paar Krausel rund um das Ruder an, da? sie uberhaupt Fahrt machten; in der ganzen Zeit hatten sie nicht mehr als vierhundert Meilen zuruckgelegt.

Bolitho schwenkte das Teleskop weiter herum und sah die Sonne auf den Bramsegeln der Fregatte Vanquisher leuchten, die sich luvwarts von ihnen zum sofortigen Eingreifen bereit hielt, wenn ihre schwerfalligen Begleiterinnen sie benotigen sollten. Er richtete sein Glas wieder nach vorn auf das Flaggschiff. Gelegentlich, wenn es gerade auf einem Dunungskamm ritt, sah er noch ein kleineres Segel weit voraus, das» Auge «des Admirals.

Beim Passieren von Sandy Hook hatten sie bemerkt, da? auch die Korvette Spite Segel setzte und ohne jedes Aufsehen ihren Ankerplatz verlie?. Sie segelte jetzt weit vor ihnen und wurde durch Flaggensignale alles melden, was fur den Admiral von Interesse sein konnte.

Es war ein prachtiges kleines Schiff, bestuckt mit achtzehn Kanonen. Bolitho hatte es wiedererkannt: Es war dasselbe, das kurz vor Sparkes vergeblichem Versuch, die Brigantine zu bergen, auf die Faithful gefeuert hatte. Ihr Kommandant war erst vierundzwanzig Jahre alt, aber ebenso wie die anderen drei genau im Bilde daruber, was gespielt wurde.

Geheimhaltung hatte sich in ihre Welt eingeschlichen wie die ersten Zeichen einer Krankheit.

Das Deck zitterte, als sich steuerbords jetzt die Stuckpforten des unteren Batteriedecks offneten und kurz darauf drei?ig Zweiund-drei?igpfunder ausgefahren wurden, als ginge es ins Gefecht. Wenn sich Bolitho uber die Reling beugte, konnte er sie sehen; aber schon bei dem Gedanken, das hei?e, zundertrockene Holz zu beruhren, war ihm, als habe er sich verbrannt. Was Dalyell — jetzt Kommandierender des unteren Batteriedecks — auszuhalten hatte, wagte er sich kaum vorzustellen.

Die Segel flappten mude, aber vom Wimpel an der Mastspitze las er ab, da? der Wind sich keineswegs drehte. Es wehte weiterhin gleichma?ig aus Nordwest, aber zu schwach, um die brutende, feuchte Hitze aus den Decks zu vertreiben.